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Neue theologische Literatur.
Unter den gewaltigen Erregungen, mit denen die politischen Geburtswehen der jüngsten Zeit den Gesammtorganismus der civilisirten Staaten erfaßt haben, will es Vielen scheinen, als oh die religiösen und kirchlichen Fragen an Gewicht und Interesse für unser Culturleben bedeutend verloren hätten. Literatur aber und Jnteressenverkehr der Gebildeten belehrt uns eines Anderen. Die Parteien stehen sich auf dem theologischen Gebiet mit ungebrochener Rührigkeit gegenüber, und im Stillen wuchert eine Saat, die, wenn nur ihre bereits sichtbaren Keime erst emporgewachsen sind, auch hier die größten Umwälzungen verheißt. Wir meinen die Einwirkungen der Evangelienkritik, seitdem sie in den Schriften der Renan, Strauß und Schenkel populär geworden, nicht mehr allein in der theologischen Welt, sondern zugleich in zahlreichen Laien mit der Erschütterung des alten Dogmengebäudes die Tendenz nach Zerstörung oder Neuorganisirung der bisherigen kirchlichen Formen angeregt hat. Der Kampf, der sich hier entsponnen, wird immer heißer und ausgedehnter. Die moderne Kritik, so bedeutender Verbreitung sie sich neuerdings nihmt, hat dennoch einen harten Stand, indem sie nicht nur im Lager der starren Orthodoxie, sondern auch in den ihr zugänglichen Gebieten auf Abneigung und Widerstreben stößt; ein Widerstreben, das in dem mächtigen Dränge nach kirchlicher Einheit und Zusammenhaltung, wie er die große Mehrheit der Geister beseelt, seinen Grund hat und so lange berechtigt und unbesiegbar sein wird, bis es gelingt, die Formel zu finden, in welcher das neugewonnene Cbristusbild der ganzen Gemeinde anschaulich und unentbehrlich gemacht werden kann, indem der Einzelne wie die Gesammtheit für jedes Stück Altväterhausrath, das man ihnen nimmt, mit Bewußtsein Aechteres und Fruchtbareres empfangen.
Halten wir Revue über die hierher gehörige theologische Literatur der letzten Monate, so begegnet uns zunächst der neueste Versuch negativer Evangelienkritik in
H. G. Jbbeken. das Leben Jesu nach der Darstellung des Matthäus. Oldenburg. Schulze, der das erste Evangelium als eine Tendenzarbeit darstellt, welche Jesus als den im Alten Testament verheißenen Messias aus einer durchgehenden Parallele seines Lebens und der Entwicklungsgeschichte des jüdischen Volkes nachweisen wolle. Doch vermag uns'nur der polemische Theil, in welchem des neuerdings der leipziger Universität „gewonnenen" Delitzsch Ansicht „jenes Evangelium