Das englische Budgetrecht.
Die Behandlung des Staatshaushalts in England ermangelt nicht für uns des praktischen Interesses und zugleich kann man kühn behaupten, daß in Deutschland unter hundert Männern, die sich mit Politik beschäftigen, kaum einer eine annähernd richtige Vorstellung vom englischen Budgetrecht hat, ob- schon doch die Meisten der Zuversicht .sein werden, daß die gangbaren continen- talen Auffassungen der Sache, sowie der Name, aus England herstammen. Deshalb soll hier eine kurze übersiä'tliche Darstellung der englischen Einrichtungen versucht werden, wobei wir für Einzelnheilen und Belege auf die Werke von Gncist und Coxe verweisen.
Die gangbare continentale Anschauung ist diese:
Das Budget ist ein die gesammtcn Einnahmen und Ausgaben des Staats umfassender Etat. Dieser w>rd jährlich von der Regierung der Volksvertretung vorgelegt, von dieser auf ein Jahr bewilligt und in der Form eines Gesetzes festgestellt. Einnahmen, die die Volksvertretung nicht im Budget bewilligt hat, darf die Regierung nicht erheben, Ausgaben, die nicht im Budget bewilligt sind, nicht leisten. Ist die Vollsvertreiung mit dem Ministerium unzufrieden, so hat sie es stets in der Hand, die Einnahmen oder die Ausgaben oder das ganze Budget zu verweigern, und es muß dann selbstverständlich ein neues Ministerium gebildet werden.
Dies hält man so in Bausch und Bogen für den Zustand in England und auch für den idealen Zustand.
Das Wahre aber ist dies: jene Auffassung und, zum Tbeil, jene Einrichtung ist »ein ein Pn'duct des französischen Constitutionalismus; in England hat nie desgleichen bestanden und besteht es nicht; und ideal ist jener Zustand deswegen nicht, weil er unpraktisch ist.
Grenzboten II. 1867. 6