24Z
schwanden, finden wir in der Ältesten Kirche da und dort im Gebrauch; noch in der Mitte des zweiten Jahrhunderts treffen wir kirchliche Schriftsteller, welche andere Evangelien benutzen als die unsrigen, und welche solche Schriften noch nicht kennen, die jetzt in unsrem Kanon sich befinden. Erst am Ende des zweiten Jahrhunderts — also welcher Abstand von der angeblichen Abfassung — finden wir den Kanon zu einem gewissen Abschluß gediehen, bei Schrift- stellern, welche, auf die Befestigung der kirchlichen Einheit bedacht, auch die lite- rarischc Ueberlieferung fixirtcn. Erst jetzt begann man jenen Schriften den Charakter göttlicher Eingebung beizulegen, den man bisher den prophetischen Büchern des alten Testaments zuschrieb. Jetzt erst stellte man dem alten Testament ein neues Testament zur Seite. Bei Jrenäus, dem Bischof zu Lugdunum (Lyon), finden sich zuerst die Begriffe von Inspiration und Kanonicität. Aber selbst dieser am Schluß des zweiten Jahrhunderts stehende Kirchenvater legt noch so wenig Gewicht auf die Schrift, daß er meint, der christliche Glaube wäre nicht gefährdet, wenn auch von den Aposteln keine Schriften vererbt worden wären, da die apostolischen Schriften durch die Tradition ersetzt werden könnten. So sebr überwog damals noch die lebendige Ueberlieferung. Erst in dem Maße, als diese sich zu rrübcn oder zu erlöschen begann, als das Verlange» einer festeren Eonsiituirung der Kirche auch in dogmatischer Beziehung erwachte und gegenüber den Ketzern eine wirksamere Waffe nöthig schien, als die haltlose Berufung auf die Tradition, zeigte sich auch das Bedürfniß eines geschlossenen Kreises schriftlicher Ueberlieferungen und zwar gesetzgebender, höchst beglaubigter, von Gott eingegebener Glaubensurlündcn.
Dogmatische, kirchliche Motive waren es also, welche zum Abschluß des Kanons führten. Dogmatische Motive waren es auch in der Regel, welche den Schwanlungen zu Grunde lagen, bevor der Kanon zum Abschluß kam. Durchaus sehen wir die Kritik unter der Herrschaft der Dogmatik stehen. Nicht die Kirchenlchre wird nach dein Kanonischen, sondern das Kanonische nach der Kirchenlehre bemessen. Ein schlagendes Beispiel hierfür ist das Schicksal, welches die Offenbarung des Johannes gehabt hat. Keine Schrift ist, selbst wenn ihr hohes Alter nicht aus ihrem Inhalt sich erweisen ließe, durch bessere und ältere Zeugnisse als Apostclschrift beglaubigt als diese. So weit sich die Spuren der christlichen Literatur überhaupt zurückverfvlgcn lassen, treffen wir auf die Offenbarung, und mit Papias, dem in der Kirchengeschichte des Eusebius erwähnten Bischof von Hierapolis, der noch „ein Hörer des Johannes" war, reichen die Zeugnisse bis in die Zeit des Apostels selbst hinauf. Allein in dem Maße, als die schroff judenchristliche Denkweise, aus welcher diese fanatische Zornesschnft heraus geschrieben ist, in der Kirche überwunden wurde, nahm auch das Interesse an ihr ab. Je bedenklicher die Lehre vom tausendjährigen Reich einer späteren Zeit erschien, um so verdächtiger wurde auch das
31*