99
Der Mythus der Niobe.
Niobc und dic Nivbidcn in ihrer literarischen, künstlerischen und mythologischen Bedeutung von Dr. K. E. Stark, Leipzig, Engclmcmn, 1863.
„Der Ursprung des Mythus ist ein idealer", so ohngcfähr heißt es in der Einleitung, „er niht im Gemüthe des Volkes, in der religiösen Hingade an eine in der Naturerscheinung »der im Menschenleben sich offenbarende göttliche Potenz. So wird es immer ein Doppeltes sein, das wir aufzusuchen haben: dic eigenthümlich religiöse Stimmung und das einfache Bild eines Natur- Vorganges. In diesem Doppelten liegt es zugleich ausgesprochen, daß der Mythus zunächst in Cultus und Symbol seine Wurzeln hat."
Auf wunderbare Weise zeigt sich dieser Vorgang in der ältesten der griechischen Mythen, um dic es sich hier handelt, der Niobesage. Der durch das ganze hellenische Alterthum gehende eindringliche Zug, gegenüber der göttlichen Macht an die menschliche Abhängigkeit zu mahnen, ist in ihr zur ties poetischen, lebendig fruchtbaren Kunstidee geworden, welche, einer stets erneuten Entwickelung fähig, das liebevoll gepflegte Eigenthum des griechischen Volkes gewesen ist.
Im Homer schon erinnert Achill den trauernden Pricunos an das Schicksal der Niobc, „der daheim im elterlichen Hause sechs Töchter und sechs blühende Söhne dahingestorben sind." Der alte Hcfiod, die späteren Lyriker bis auf Pindar und Sappho haben sich dcn fruchtbaren Stoff nicht entgehen lassen. Eines der gewaltigsten, durch Einfachheit der Anlage und Macht des Ausdruckes erschütterndsten Dramen soll die Niobc dcs Acschylus gewesen sein. Der alte Tragödiendichter zeigt die Heldin auf dem Grabe ihrer Kinder sitzcnd, verhüllten Hauptes, in starren Schmerz versenkt, während die Neigen der Chor- licdcr an ihr vvrübcrrauschen. Sophokles, von dessen Niobidentragödie uur unbedeutende Rcste erhalten sind, versetzte seine Niobc aus den Boden von Theben und zwar wählte er dcn Augenblick, wo das Verhängnis) die Söhne und Töchter vor den Augen der Mutter ereilt. Ueber die zarten Verhältnisse schwärmerischer Jugendneigung im Kreise fürsorglicher Wärterinnen erhebt sich dic tragische Gestalt der „Alldulderin" in göttlicher Hoheit. Die dithyrambische Dichtung benutzte das Schicksal der Niobe^ „ihr stolzes Rcdcn und ihr Schweigen im Leid", zu Gesängen und Tänzen des feierlichen Chvrreigens und der hoch- tragische Charakter des Mythus muhte auch in der Parodie seinen Gegensatz finden. Die alexandrinischcn Dichter nicht minder als die römischen spannen den Faden fort, bis Ovid einen gewissen Abschluß herbeiführte durch seine voll-
13*