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erlaubt hätte, einzelne Gedichte je nach Belieben herauszugreifen und in einen willkürlichen Zusammenhang zu bringen, wie man früher namentlich zur Illustration des Verhältnisses zu Vittoria Colonna gern gethan hat. Aber andrerseits ist durch die Nichtbenutzung eines so wichtigen Theils des Materials eine Lücke geschaffen, die als eine wesentliche bezeichnet werden muß. Gerade das Seelenleben Michelangelos, seine philosophischen Spekulationen, seine innere Entwicklung sind somit aus der Biographie nahezu ausgeschlossen, ein Mangel, den die bisherige Borenthaltung der florentiner Papiere, wenn der Verfasser nun einmal ohne sie ans Wert schritt, doch vielleicht nicht völlig rechtfertigt.
Sehen wir uns nämlich die Varianten der vaticanischen Handschrift, welche bisher bekannt sind, und diejenigen des Manuscripts im britischen Museum, soweit Grimm sie mittheilt, näher an. so ergibt sich, daß die Aenderungen doch im Wesentlichen sich auf die äußere Form beschränken. Es kommen Wohl Ab- schwächungen vor, namentlich ist manchmal das persönliche Coloril verwischt, zuweilen sind ganze Perioden umgestaltet, aber auch dann ist es blos ein Weiter- spinnen solcher Gedanken, die auch von Michelangelo ausgedrückt sind. Eine Unterschiebung fremder Gedanken wird sich im Grunde nirgends nachweisen lassen. Die Ideen sind dieselben, wie denn überhaupt Niemand behaupten wird, daß der in den Gedichten Michelangelos der verschiedensten Gattung niedergelegte Gedankeninhalt die Erfindung eines Akademikers des siebzehnten Jahrhunderts sein könne. Ich will die Wichtigkeit der Herstellung des ursprünglichen Textes natürlich nicht bestreiken. Aber wichtiger, als etwaige Berichtigungen, wird für die Kenntniß von Michelangelos innerem Leben ohne Zweifel die Bereicherung sein, die wir aus den handschriftlichen Schätzen noch zu erwarten haben, zumal wenn, wie Grimm versichert, gerade eine Reihe Gedichte philosophischen Inhalts im britischen Manuscript als „schwierig" angestrichen und vom Druck ausgeschlossen worden sind. Leider theilt Grimm von diesen ungedruckten Sachen nur ein Sonett mit, das geeignet ist, hohe Erwartungen von dem noch zu hebenden Schatz zu machen. Im Uebrigen aber wird man schon jetzt die Vermuthung aussprechen können, daß die ursprünglichen Texte der Interpretation eine harte Aufgabe stellen werden. Es liegt uns eine römische Ausgabe der Gedichte vom Jahre 1817 vor, welche anhangsweise 26 Gedichte aus der vaticanischen Handschrift enthält, die nicht in die gewöhnliche Sammlung übergegangen sind. Sie sind zum großen Theil unverständlich, sie zeigen, wie schwer Michelangelo, der nach Condivis Ausdruck nicht ein „Dichter von Profession" war, mit der Sprache zu ringen hatte, und erinnern oft lebhaft an jenen halbbehauenen Marmorblock, der heute im Hof der Akademie zu Florenz steht. Michelangelo wollte aus ihm die Statue eines Apostels heraushauen, aber noch steckt sie tief darin in der rohen Marmorhülle, die allerorten die Spuren der Hammerschläge des Meisters zeigt.