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Hermann Grimms Michelangelo.
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Scharfblick hat er diesen Stoff gesichtet, Beziehungen aufgefunden, an denen die bisherige Forschung vorüberging, auf schon Bekanntes neue Schlag­lichter geworfen und endlich das Ganze in eine Form gegossen, die, wie ein ächtes Kunstwerk thun soll, die Mühe des Suchens und Zurichtens vergessen läßt.

Wenn es zum Verständniß einer Künstlernatur selbst einer künstlerischen Ader und zur Vereinigung zerstreuter, an entlegenen Orten verborgener Notizen zu einem zusammenstimmenden Gemälde der Gabe comvinatorischen Scharfsinns bedarf, so bringt Grimm eben diese Eigenschaften in hohem Grade mit. Nur liegt eine Gefahr dabei nahe. Mit der Gabe der Combination wird, ermu- thigt durch jeden glücklichen Fund, auch die Lust und Neigung dazu Hand in Hand gehen. Es sind der Punkte viele, wo er seine Vorgänger berichtigt und mit zureichender Begründung Neues aufstellt. Aber häusig sind es auch Nur Ver­muthungen, mit denen er eine in den Quellen gelassene Lücke überbrückt, und wir gewinnen bald den Eindruck, daß er gerade ihnen mit besonderer Vorliebe nachgeht. Die schönsten und überraschendsten Ausführungen gehören zum Theil diesem Gebiet an, und es ist wahr, immer sind sie blendend und geistvoll be­gründet. Um Einzelnes hervorzuheben, wird z. B. Niemand widerstreiten, wenn Grimm die Entstehung der beiden Gedichte an Dante in die Zeit versetzt, da Michelangelo aus der belagerten Stadt Florenz entflohen war und in Venedig ein Geächteter lebte. Sein Aufenthalt daselbst dauerte zwar nur vierzehn Tage, und war von mannigfachen Anträgen, besonders aber von der Angelegenheit seiner Rückkehr nach Florenz in Anspruch genommen. Auch betrachtete er sich die ganzen letzten dreißig Jahre als einen freiwillig von Florenz Verbannten. Indessen, sollten diese Gedichte an einer bestimmten Stelle der Lebensbeschrei­bung eingereiht werden, so lag es immerhin nahe, daß er eben in jenen Tagen lebhaft an das verwandte Schicksal Dantes erinnert wurde, und solcher Stim­mung die Klage überdie undankbare Heünath" entsprang,die stets die Besten mit den bittersten Schmerzen belud". Unbedenklich erscheint, wenn man Va- saris Autorität nicht gelten lassen will, die Behauptung, daß bei den beiden Medicäcrstatuen in der Sacristei von San Lvrenzo bisher die Namen ver­wechselt worden seien, da vielmehr die nachdenkliche Figur den melancholischen Giuliano, die andere den kriegerischen, hochmüthigen Herzog von Urbino bedeute. Daß die Madonna zu Brügge ein Werk Michelangelos ist, darf als erwiesen gelten. Die Ansicht, daß die angebliche Galatea Nafaels in der Farnesina viel­mehr eine Venus sei, ist mit Glück auf den Zusammenhang dieser Comvosition mit der Fabel von Amor und Psyche gestützt. Ueberraschend ist die Entdeckung, welche Grimm auf einem alten Stich vom Jüngsten Gericht in der sistinischen Kapelle ge' macbt hat. Bestätigt es sich, daß auf einem Stich vom Jahre 1548 an der Stelle der Maria zur Seite des weltrichtcnden Jesus sich ein Mönch befindet, so wirft