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Deutsche Literaturgeschichte.
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Gemüthsverfassung für einen Geschichtschreiber, Wenn der Geschichtschreiber erst bei dem verehrungswürdigen Publicum anfragt, was für eine Art der Darstellung es wünsche, wenn er nicht in seinem Innern das volle Bewußt­sein der Wahrheit vorfindet und die Nothwendigkeit sie zu verkünden, gleich viel was das verehrungswürdige Publicum dazu denkt, so möchten wir unse­rerseits rathen den Pinsel wegzuwerfen, denn der Geschichtschreiber hat nicht die Aufgabe dem Publicum zu schmeicheln, sondern es zu belehren, und das Publicum ist viel dankbarer gegen den, der es belehrt, als gegen den, der ihm schmeichelt. Sodann möchte jener Ansicht ein factischer Irrthum zu Grunde liegen. Schillers Name ist freilich sehr populär, wie ja die verschiedenen Schillervereine, Schillerstiftungen u. s. w. beweisen, es wird in diesen Ver­einen viel Artiges über Schiller gesagt und doch wagen wir die Behauptung, daß er viel weniger gekannt, viel weniger gewürdigt ist, als er verdient. Die Mehrzahl setzt sich ein Bild aus Karl Moor, Marquis Posa und Max Pie- colomini zusammen und hält dies Zerrbild für Schiller. Es ist sür den Dich­ter kein Glück, daß ihn jeöer Tertianer auswendig lernt, denn für den Ter­tianer gibt es freilich keine populäreren Charaktere als Karl Moor, Marquis Posa und Max Piccolomini. und die Reminiscenzen dieser Lebensperiode sind schwer zu verwischen. Für das reifere Alter ist jetzt Goethe viel populärer als Schiller.

Der Verfasser hat den Versuch gemacht, auch die erste Entwicklungszeit seines Helden bis 1785 so darzustellen, daß das Publicum davon erbaut wer­den soll. Er hat in dieser Beziehung keinen entschiedenem Gegner als Schiller selbst. Wie Schiller seit seinem Verkehr mit Goethe oder auch noch früher über seine älteren Dichtungen urtheilt, ist allgemein bekannt, es mnß aber hinzugesetzt werden. daß etwa Tieck ausgenommen alle bedeutenden Männer jener Zeit seine Meinung theilten. Man erkannte in ihnen die Werte eines außerordentlichen Talents, aber eines Talents, das nicht blos unreif war, son­dern in die heilloseste Verwilderung zu fallen drohte. Nickt Max Piccolo­mini, sondern der Mcdiciner, der dem Zusammenhang der thierischen mit der menschlichen Natur nachspürt, spricht sich in diesen Dichtungen aus.

Aber auch im Leben. Wenn die Thatsachen einmal berichtet werden, warum soll man das Urtheil zurückhalten. Schiller war freilich niemals der Mann der feigen Reue, der im Sündcngefühl schwelgte; sobald er mit seiner Vergangenheit brach, entfernte er sie aus seinem Gesichtskreis und leistete da­durch Genugthuung, daß er Großes schuf und edel lebte. Aber wenn einmal die Gestalten seiner Vergangenheit vor ihm auftauchten, konnte er sich doch einer gewissen Scham nicht erwehren; ja manche anscheinend gehässige An­griffe gegen andere werden nur aus diesem Schamgefühl über seine eigene Vergangenheit erklärlich. Man hat die bekannte Recension über Bürger sehr