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Die preußischen Justizreformen seit 1848. 1.
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Die preußischen Znstizresormen seit 1848.

i.

Zehn Jahre sind grade verflossen, seit eine folgenreiche Bewegung durch Europa zog, die acht Tage vor ihrem Ausbruch von niemand geahnt worden war. Nicht nur die Länder, welche bisher das Privilegium gehabt, Revo­lutionen zu machen, auch die Staaten des deutschen Bundes, darunter zwei Mitglieder der heiligen Alliance wurden ergriffen, die Straßen ihrer Haupt­städte sahen Scenen, wie nur Paris oder Madrid sie erlebt, und ringsherum in den Provinzen fanden Ausbrüche statt, welche die vulkanische Natur des Bodens ahnen ließen, auf dem man bisher mit dem Gefühl vollkommenster Sicherheit gelebt hatte.

Das Merkwürdigste war, wie schnell und, widerstandslos selbst Einrich­tungen beseitigt waren, auf deren gründliche Festigkeit jeder geschworen hätte, und wie mit einem Zauberschlnge Wünsche und Ansichten nicht nur in aller Munde waren, sondern auch verwirklicht wurden, deren Ausführung bis da­hin nur der Sehnsucht weniger als Ideal fernster Zukunft geleuchtet hatte, deren bloße Aeußerung schon gefahrvoll gewesen war. Wer am wenigsten wußte, um was es sich handle, ging der neuen Aera mit dem wärmsten Her­zen und den sanguinischsten Hoffnungen entgegen. Man konnte wol aus die Deutschen anwenden, was ein geistvoller Engländer einst von den Erwartungen seiner Landsleutc bei Durchführung der Reformbil! gesagt hatte: jedes Mäd­chen war überzeugt, daß sie nun einen Mann bekäme, jeder Tagelöhner, daß halbe Arbeit jetzt den doppelten Lohn brächte, und die Schulbuben glaubten, daß der erste Paragraph des neuen Staatsgrundgesetzes die lateinischen Verba und ihr Gedächtniß für immer von den lästigen Gerundiis und Supinis be­freien müßte. Diejenigen, welche dem unklaren Dränge der Zeit mit bewuß­tem Wollen gegenüberstanden, hatten ihre Kräfte schnell zwei bestimmten Zielen zugewandt: es galt, den Bürgern der einzelnen Staaten eine rege Bethei­ligung am öffentlichen Leben zu ermöglichen, und diesem selbst die entspre­chenden Formen zu geben; es galt, den Bau der deutschen Einheit zu voll­enden, welcher seit Jahrhunderten als eine unfertige Ruine dastand, wie Deutschlands größter Dom.

Es ist bekannt genug, wie wenige von den Entwürfen, welche der Ver-

Grenzbotm II. 1858.