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empfindet, und daß er z» seine» Gestalten, in denen er diese Ideen versiuulicht, jene innige Liebe hat, die den wahren Dichter charakterisirt, so sollte man glanben, das! alle Elemente eines vortrefflichen Kunstwerks in ihm vorhanden wären. Und doch fehlt etwas darin. Ein Jeder, der nnl'efangen und mit gesunden Sinnen an die Lecture seiner Werte geht, wird trotz aller Bewunderung vor dem Talent des Dichters sich des Gefühls einer gewissen Verstimmung nicht erwehren können. Die Weltanschauung, die ihm der Dichter eröffnet, wird ihn nicht befriedigen, ja er wird znlejzt Ennüdnng nnd Erschlaffung fühlen.
Es ist nicht leicht, das, was ihm fehlt, in einem einzelnen Ausdruck zusammenzufassen; indeß glanben wir nicht mißverstanden zu werden, wenn wir es den künstlerischen Idealismus nennen.
Wir sind in uusren Tagen allzu geneigt, aus Abueiguug gegeu deu oberflächlichen, auf cvnveutiouellen Vorstellungen bernhcnden Idealismus der sranzö- sischen Knnstperiode uns mit einem Knnstwcrk vollkommen zufrieden zu erklären, wenn es die Natur getreu wiedergiebt. .Es ist das ciu großer Irrthum. Das wirkliche Leben in seiner vollen Ausdehnung und in seiner Vielseitigkeit reicht nicht nur für die Kuust uicht ans, sondern es gehört gar nicht hinein. Das klingt paradox, aber bei einigem Nachdenken wird man sich davon überzeugen. Man hat ja auch neuerdings in der plastischen Kunst versucht, Sceueu aus dem wirklichen Leben darzustellen, mit allem möglichen Aufwand technischer Mittel; es hat aber doch keine Wirkung gethan, wahrend die alten Maler mit ihren einfachen Mitteln, weil sie Ideale darstellten, noch immer die allgemeine Bewnudcrnng erregen. Wir nehmen die Genremalcr davon gar nicht ans, denn die humoristische Idealität ist auch eine Idealität. Ein Kunstwerk, welches uns die getreuesten Stndien nach der Natnr giebt, beschäftigt wol unsren Verstand, vielleicht auch unsre Phantasie, aber wir eilen ungeduldig weiter nnd fragen bei jeder neuen Seite, wann wird »nn daö eigentliche Kunstwerk anfangen? Jeder möge seine eigene Erfahrung prüfen, ob er nicht selbst so empfunden hat. — Ja wir gehen noch weiter. I» d^- läßt man sich durch daö Gefühl der Uebereinstimmung
und Frende ^ einem Dichterwerk täuschen, und glaubt darin den reinsten Realismus zu haben, während doch die Realität dem Dichter nur als roher Stoff gedient hat. So geht es z. B. den meisten Lesern mit Dickens; sie glaubeu in ihm den reinsten Spiegel der Wirklichkeit zu haben, weil seine Schilderungen und Darstellnngen auf das Gemüth einwirken und eiueu bestimmten, in der Regel befriedigenden Eindruck hervorbringen, und doch ist bei Dickeuö vou reiucm Realismus gar nicht die Rede. Abgesehen von den groben Verstößen gegen die Wirklichkeit, die er aller Angenblicke begeht, die wir aber übersehen, weil sie die poetische Stimmnng uicht alterireu, zeigt er eigentlich überall, wo er an eine Dmstellnng des gemeinen wirklichen Lebens geht, einen überraschenden Mangel an Talent. So in seinen GcrichtSscencu, in seiner Beschreibung der Armenschnle u.s.w.