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glauben, die zu der geistigen Kraft österreichischer Volksstamme mehr Vertrauen haben, als die bisherigen Matcrialismustendenzen ihnen zumuthe- ten. Vielleicht sagten sich diese Manner, daß, so gut die Poesie in Oesterreich trotz der gewaltigen Hemmnisse, die ihr von allen Seiten in den Weg gelegt wurden, zu so glänzendem Durchbruch gekommen ist, daß die österreichischen Lunker an der Spitze deutscher Literatur der Gegenwart stehen, eben so gut wird auch das rednerische Talent und die Klarheit rhetorischer Gedankenordnung rasch aufblühen, sobald nur der Boden dazu da ist. Mit dem Hinblick auf diese Reformplane wurde im vorigen Jahre das summarische, mündliche Verfahren bei sogenannten Bagatellcn- processen eingeführt, obschon die Summe von 200 Fl., bis zu welcher es festgesetzt wurde, keine Bagatelle mehr ist. Erwähntes Summarvcrfahren hat zwar begründeten Tadel gefunden (f. Grenzboten Nr. 18 l. I.), da dem Nichter zu viel Gewalt eingeräumt ist und er, abseits aller Oessent- lichkcit, keiner Eontrole unterliegt. Bei einer radicalen Reform der Gerichtsordnung würde man jedoch diese Uebelstande von vorn herein beseitigen müssen, und diese Reform wurde schon damals in Aussicht gestellt. Die Frage ist jetzt nur: wann werden wir die Schwelle übertreten, an der wir jetzt stehen und wird nicht die beabsichtigte Reform abermals bei der guten Absicht stehen bleiben, ohne zur vollen That zu werden?
Eine zweite Frage ist: werden die Verhältnisse unserer Advocatur dieselben bleiben, wie sie jetzt sind, oder wird man es nicht endlich für angemessen finden, bevor man dem mündlichen Proceß die Gcrichtsschranken öffnet, für eine gute Zahl tüchtiger Anwälte zu sorgen? Die barocken und widerfinnigen Zustande unserer Advocatur würden für die Feder eines Swift und für den Stift eines Hogarth einen unerschöpflichen Stoff bilden. Wien mit seinen 425,000 Einwohnern hat nur achtzig Advocaten! Früher zählte man ihrer zweihundert. Der verstorbene Kaiser Franz aber, dessen politische Ansichten dem unabhängigen Advocatenstande nicht hold waren, setzte die Zahl auf das erwähnte Häuflein herunter. Mittlerweile hat die Bevölkerung um mcbr als ein Dritthcil sich gesteigert, der Geschäftsverkehr hat um die Hälfte sich vermehrt und hat, wie natürlich, die Zahl der Processe in gleichem Maße erhöht; nichtsdestoweniger steht Alles beim Alten: Achtzig Advocaten üben das Monopol und brandschatzen das Publicum. Es ist bei uns keine seltene Erscheinung, daß ein Advocat nach einer Praxis von acht bis zehn Jahren sich ein großes Haus baut oder ein splendides Gut sich ankauft. Theurere Processe, als bei uns, dürfte es kaum in England geben. Die Folgen davon sind leicht zu errathen: Zuerst hat dieses Monopol ein Heer von 40V „Winkler" (Winkeladvoca- ten) hervorgerufen, bei welchen die Halbbemittelten ihre Zuflucht suchen, und hier wieder in anderer Weise ausgesogen und, was noch schlimmer, betrogen werden. Der Staat, indem er dem einen Uebel steuern wollte, hat grade das entgegengesetzte, viel nachtheiligere Uebel hervorgerufen. Es ist derselbe Fall, wie mit den hohen Zöllen, die den Schmuggel begünstigen. Der Winkler, unwissenschaftlich, erwerbbegierig und unverantwortlich, verlockt zu manchem Proceß und verlängert diesen, soweit es geht. Und grade die unbemittelten und ärmern Klassen sind seine größte