402
den anderseitigen mehr als konservativen Ansichten, namentlich in religiösen und kirchlichen Dingen, hat man Ursache, die Fortschrittselemente in seinen Staatsvorschlägen stark in Zweifel zu ziehen. Bor der Hand befindet sich dieser Staatsmann auf seinem neuen Posten in Paris und sein Einfluß, der, wahrend seines dreimonatlichen Aufenthalts hier, nicht ganz spurlos war, ist eben durch die Kürze dieses Aufenthalts und durch die Ferne, in der er sich jetzt befindet, nicht zu fürchten oder nicht zu hoffen — wie man will. Was nun aus der von ihm unterstützten Preßfrage, in Bezug auf die Creirung neuer Regierungsblätter, werden wird, muß uns die nächste Zukunft lehren.
Seit vierzehn Tagen gastirt hier Emil Devrient. Es sind die alten Paradepferde, die er vorreitet: Posa, Hamlet, Don Cäsar u. s. w. Das ist Alles schon von den Recensenten aller deutschen Gauen, von oben bis unten zehn und hundertmal durchgesprochen worden. Im Grunde kann es Herrn Emil Devrient gleichgültig sein, ob und wie man noch von ihm spricht. Die Haupttendenz dieses Künstlers geht jetzt offenbar dahin, sich mit einer reichen und gesicherten Rente vom Theater in den Privatstand zurückzuziehen. Er weiß, daß es der schönste Schlußstein hier im Künstlerleben ist, wenn man zu rechter Zeit zurückzutreten weiß und nicht die Agonie eines verröchelnden Talentes den einst begeisterten Zuschauern sehen laßt. Herr Devrient ist noch weit von der letzten Stunde seines Talentes, obgleich nicht zu leugnen ist, daß dieses in absteigender Linie sich befindet. Das schöne sieggewohnte Organ verlor viel von seinem weichen Schmelz und in dem Bestreben, es wieder zu seiner Höhe zu bringen, geht es Devrient oft wie mit einem trocknen Geigenwirbel, der in der Mitte einer Passage nachlaßt und der Saite einen schleppenden, quikenden Ton erpreßt. Doch müßte man ungerecht sein, wenn man nicht die zahlreichen glänzenden Eigenschaften anerkennen wollte, durch welche dieser Schauspieler noch immer über die meisten deutschen Künstler seines Faches hervorragt. Sein Hamlet namentlich ist eine classische Leistung voll Schwung und Einheit. Besonders lobenswerth ist bei ihm das Fallenlassen einzelner Phrasen und Momente, welche andere Schauspieler bis zur Caricatur hervorheben. Der Hamlet der Darstellung muß ein anderer sein als der Hamlet der Lectüre. Beim stillen vor sich Hinlesen im einsamen Zimmer da hat jeder Satz, jedes Wort dieser tiefsinnigen Dichtungen einen Anspruch auf Nachdenken. Aber auf der Scene, da darf die Mosaik der einzelnen Gedanken nicht auseinandergerissen werden. Da darf Manches nicht so scharf accentuirt und hervorgehoben werden, um nicht das Gesammtbild zu verzerren. In dieser Beziehung versündigen sich die meisten Hamletdarsteller. Sie commen- tiren mit Gesten und hervorgehobenem Accent jedes Wort und ziehen so den Charakter in's Breite und lösen ihn auf, statt ihn zusammen zu fassen. Dcvrient's Hamlet ist durchaus nicht der schwammige Patron, den gewöhnliche Schauspieler aus ihm machen. Er ist Rcflexionsmcnsch, aber kein Philister, kein Mitarbeiter an einer deutschen Literaturzeitung, kein Privatdocent an einer preußischen Universität. Bei den meisten Darstellern begreift man es gar nicht, wie dieser Hamlet dazu kommt,