Beitrag 
Lyrisches Hintertreffen.
Seite
375
Einzelbild herunterladen
 

375

Ein ganz weiblicher Grund zum Singen und Klagen. Die Verfasserin bittet uns (S. 172.) ihre Lieder so anspruchslos aufzunehmen, wie sie dieselben gefunden. Ein weicher, sentimentaler, bis zu einer krank­haften Schwärmerei ausartender Ton zieht sich durch dieselben vom Anfang bis zu Ende, das Mitleid, der Tugend Lohn, das Heimweh, die Entsagung, das sind die Saiten, welche von der Verfasserin ohne besondere Tiefe und Originalität auf die althergebrachte Weise ange­schlagen werden. Sie wird zuweilen ziemlich geschmacklos, z. B.

In des Sangers warmem Herzen

Wohnt des Lieo^s ZauderkUng,

All sein Glück und all sein Leiden

Wohn t in dem Wund.rsang.

Liebend ward er aufgezogen

In dem g luthdurchstr öm ten Raum,

Ausgeschmückt mit Perl' und Blume

Aus oeS Sängers reichstem Traum.

Sehr schwach und gestaltlos sind die Balladen und Romanzen. In diese Dichtungsform, welche ganz und gar der romantischen Pe­riode angehört, würde kaum noch ein Uhlcmd neues Leben bringen können. Man kann wohl noch neue Stoffe für die Ballade und Ro­manze bearbeiten, aber ihr geistiges Element scheint erloschen zu sein, selbst ein Talent, wie Hebbel, versucht sich vergebens daran. Einmal erhebt sich die Verfasserin aus ihrem kleinen Herzweh bis zu - Ni­kolaus Becker, und sie singt den Franzosen, die siemit blutiger Räuberhand" schildert, entgegen:

Sie sollen ihn nicht haben

Den herrlichsten Gewinn,

Es liegt mit uns begraben

Der treue, deutsche Sinn.

Nun, so mag er begraben sein und der Straßburger Drechöler- meister Daniel Hirt sich hören lassen. Der muß doch wissen, wo er begraben liegt und er wird hoffentlich recht gehörig darüber Hämmern.

Aber nein, dieser Mann ist eine ganz erfreuliche Erscheinung. Er kümmert sich auch den Teufel um die ästhetischen Regeln der Lyrik und um die moderne Macht und Bedeutung derselben, aber er jam­mert nicht, er singt mit einem derben Volksnaturell und ist bei seinem Gott, seiner Drechslerarbeit und seiner Poesie ganz zufrieden, für die, wie er selber singt, er nur des Sonntags Zeit hat:

485