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Leben und Treiben in Leipzig.
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den allgemeinsten langweiligsten Redensarten ihre Verlegenheit verbergen. Dem einen fehlt der Handgriff für den andern. Jeder trägt eine abgeschlossene Welt in sich, die durch keine Brücke mit der andern zusammenhängt. Die wenigen politischen Stoffe sind bald durchge­sprochen, und die Stadt selbst bietest zu wenig Tagesereignisse, um ein weiteres Gespräch möglich zu machen. Dazu tritt noch ein an-- deres Element: der Fleiß, der Ernst der Leipziger. In dieser ge­schäftigen Stadt sind die Müßiggänger spärlich gesäet; man erholt sich nur, weil man nicht ewig arbeiten kann. Leipzig hat keine der Ruhe pflegenden Rentiers, keine Garnisonsofsiziere, keinen zahlreichen Be­amtenstand, kurz Nichts von jener glücklichen Zahl von Lebemännern, die, nachdem sie ihr leichtes Tagwerk vollbracht, den Rest der Zeit dem Sinnen auf Mannichfaltigkeit des Genusses widmen, die ihre Ge- schaftssorgcn mit leichtem Herzen in ihrem Bureau zurücklassen, sobald sie ihm den Rücken kehren. Der Kaufmann, wie der Gelehrte, trägt hier die geschäftigen Gedanken seines Comptoirs, seiner Studirstube stets mit sich und versinkt nicht selten in den hellerleuchtcten Räumen einer Abendgesellschaft in ein sehr ungesellschaftliches Nach­denken. Vielleicht liegt hierin der Grund, warum in Leipzig die Gewandhaus- und sonstigen Concerte in einem unverhältnißmäßigen Grade blühen. Nichts stört so wenig die Gedankenverdauung als Musik. Sie zwingt nicht wie Theater, Lectüre und Conversation zu einer vollständigen Hingebung an einen andern Gegenstand; sie be­gleitet vielmehr unsere gewöhnliche Geistesthätigkeit zu angenehmem Fortschaffen und wie der Dichter keine schöpferischere Stunde hat, als in Mitten einer Beethovenschen Symphonie, so wiegt auch der Kauf­mann seine schönsten Gedanken von Soll und Haben in Mitte der silberklingenden Bilanz harmonischer Accorde.

Man hat oft gefragt, warum unter der großen Zahl tüchtiger Köpfe, welche die Leipziger Schriftstellerwelt besitzt, der schöpferischen Talente so wenige sind. Man begreift nicht, wie ungünstig das ge­sellige Klima Leipzigs der poetischen Schöpfungskraft jeder Art ist; wohl machen den Dichter mehr die innern als die äußern Zustände; aber der Einfluß der letztern ist dennoch unläugbar, fördernd oder hemmend. Der Lyriker, der unabhängigste von allen, bedarf doch eines Kreises von gleichgesinnteil Freunden, die weniger debattiren als genießen wollen; der Dramatiker bedarf eines PublicumS, das

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