356
war ihm die Armuth, der er aufhelfen, die er civilisiren wollte? Er verstand sie nicht, weder die ungezwungene Natürlichkeit, die sie erzeugt, noch die Rohheit und den Schmutz, der aus ihr hervorgeht; er wollte sie nur demüthig winselnd, mit bettelnden, thränenden Augen sehen. Ihr NichtVorhandensein hätte ihn um ein Vergnügen ärmer gemacht, sie war ihm eine romantische Spielerei, er interessirte sich für sie, wie er sich sür die Romane von Boz und für die „Geheimnisse von Paris" interessirte. Hörte sie auf, einen romantischen Anstrich zu haben, trat sie ihm mit ihren Consequenzen in der Wirklichkeit entgegen, so schauderte er zusammen und zog sich zurück, als habe er sich die Finger beschmutzt. Und vollends sein Mitgefühl mit der reizend-schönen Mathilde, das jetzt so klar und unzweideutig vor mir lag! —
Mathilde war in rasender Verzweiflung. Denn in der That, was sollte sie mm anfangen, nachdem sie zwei Jahre lang im Genuß eines ruhigen, sorgenlosen Lebens die Noth der „niederen Sphäre" vergessen und die Freuden der höheren ahnen gelernt hatte? Handarbeiten verstehen ist zwar für ein junges Mädchen sehr gut, sich aber in einer großen Stadt, bei gänzlichem Mangel an aller Bekanntschaft und Empfehlung, plötzlich ganz und gar davon ernähren zu wollen, ein schwieriges Unternehmen. Uebrigens war sie von Felix, wie sie mir sagte, durchaus nicht darauf hingewiesen worden, er hatte früher immer nur von den Gesellschaften gesprochen, in die er sie später zu bringen gedächte. Der Schreiber, der unterdeß der Guitarrespielerin den Hof gemacht, und ihr zur Belustigung des Herrn Alir in alle Wein- und Bierstuben gefolgt war — von wo ich ihn auch in jener Nacht mit ihr zurückkommen sah — wandte sich jetzt wieder hoffnungsvoll Mathilden zu und bot ihr seine Hilfe an. Trotz seiner schmachtenden Blicke und unzähligen Bücklinge wies sie ihn aber stolz zurück, er solle sich fortpacken. Wohin sollte sie nun? Ihre Eltern waren gestorben, ihre Geschwister schon vorher auf der Straße beim Betteln ertappt und in die Wadzecksanstalt gebracht worden. Endlich weckte sie der alte Herr, dem sie ihre Lage geklagt hatte, eines Nachts mit der frohen Nachricht aus dem Bette, daß er ihr eine Stelle als Mamsell in dem kleinen Conditorladen verschafft habe. Hoch erfreut stellte sie sich noch an demselben Morgen bei dem Conditor vor, Tags darauf zog sie ein. O Felir, was für ein Mann Du bist!