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fahren, denn wenn man etwas wünschte, war man darauf angewiesen, die Klingel zu ziehen, und sogleich erschien auch der dienende Geist in der Person des ältesten, sehr pfiffigen und gewandten Knaben. Man ist in Berlin nicht neugierig auf seine Hausgenossen und lernt sie gewöhnlich gar nicht kennen; oft weiß man Monate lang nicht einmal den Namen des allernächsten Nachbars, wenn man nicht zufällig seine Bekanntschaft macht. Selbst in diesem engen Häuschen hatte ich bis zum vierten oder fünften Abend noch Keinen von ihnen gesehen. An diesem kam ich etwas später als gewöhnlich nach Hause lind setzte mich eben auf das Sopha, um die vorgefundene Zeitung noch zu lesen, als ich auf dem Hausflur ziemlich laut sprechen hörte. Da auf der Straße schon die Todtenstille der Berliner Nacht herrschte, konnte ich deutlich eine etwas rauhe, weibliche Stimme unterscheiden, die in abgebrochenen unverständlichen Sätzen, Worten und Ausrufungen mit sich selber sprach. Die Stimme kam immer näher und näher, und als ich, um in meiner begonnenen Lec- türe mich nicht stören zu lassen, meine Thür verriegeln wollte, wurde draußen leise angepocht. Wer da so spät? rief ich. — Können Sie mir nicht etwas Licht geben? war die Antwort. Ich öffnete und wer beschreibt mein Erstaunen: vor mir stand ein langes hageres Weib mit verdrehten Augen, todtenbleichem Gesicht und glühendrother Nase, das lange graue Haar wild und verworren über das schmutzige Hemd herabhängend, das ihre einzige Bekleidung ausmachte. Ich nahm ihr schnell das Licht aus der Hand, es an dem meinigen anzuzünden, doch ehe ich mich umdrehte, hatte sie sich schon durch die kleine Oeffnung, die ich an der Thür gelassen hatte, hindurchgedrängt, machte letztere behutsam wieder zu und war nun im Zimmer. Sein Sie ganz still, sagte sie, die Leute dürfen nicht hören, daß ich bei Ihnen bin. Ich komme eigentlich, Sie zu warnen. Sie sind in ein abscheuliches Haus gerathen, Sie können hier nicht wohnen bleiben. In diesem Hause gehen alle möglichen Schlechtheiten und Gemeinheiten vor, die Wirthsleute beherbergen allerlei liederliches Gesindel, Spitzbuben und Frauenzimmer und schinden und betrügen, daß es eine Freude ist. Da oben im obersten Hinterstübchen wohnt ein alter Weißkopf, mit dem stehen sie im Bunde. Denken Sie sich, dieser alte Kerl sitzt den ganzen langen Tag da oben allein in der engen Cajüte, kein Mensch kennt ihn,
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