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Tagebuch.
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sind; auch war von jeher nicht der Druck von Außen, sondern die innere Geschiedenheit und Zerklüftung der Erbfeind, der uns im Wett­eifer mit den Nationen hemmte. Man glaubt nicht mehr, in Mer äußerlichen und blos negativen Weise, welche die schwachen Völker charakterisirt, durch blinden Eifer und Argwohn gegen jeden Schatten eines fremden Worts oder Kleides sein Nationalgefühl beweisen zu müssen. Wir brauchen uns nicht mehr gewaltsam in ein Ur- oder Altdeutschland zurückzuschrauben und jeden Fortschritt, der aus dem ge­meinsamen Boden europaischer Gesittung stammt, zu verdonnern, weil er nicht ausschließlich bei und für uns gewachsen ist; als. wäre für die deutsche Nationalität keine Rettung als in der Flucht. Des­halb sind jene Richtungen ei»er trüben Zeit, die durch teutsche Nöcke, teutsche Bärte und teutsches Kaiserthum, durch lautes Geschrei gegen Außen und zahme Pantoffelgehorsamkeit im eigenen Hause ihren Pa­triotismus erschöpften, beinahe ganz verschwunden und in die prak­tischer» Bestrebungen für Einigkeit und Freiheit umgeschlagen. Es fehlt leider nicht an zahlreichen traurigen Symptomen nationaler Schwäche; Tausende gibt es noch, ja ganze Volksstämme, die nur instinctmäßig Deutsche sind und das Gefühl, einer Nation vom edel­sten und größten Beruf anzugehören, kaum der Ahnung nach kennen. Aber man hat eingesehen, daß es eitel ist, gegen die Symptome Krieg zu führen. Wenn der frische Lebensquell die Wurzeln tränkt, werden auch die Blätter grünen; wenn'im Herzen Kraft und Ver­trauen wohnt, werden auch die Augen leuchten.

*) Wir können uns nicht enthalten, für diese allgemeinen Raisonncments unseres Herrn Mitarbeiters ein Beispiel anzuführen, welches zugleich Gelegen­heit gibt, uns mit Herrn Schuselka zu verständigen, der gegen eine wohl­gemeinte Bemerkung derGrenzbotcn" über seine Wiener Correspondenzen, sich in der Augsburger Allgemeinen Zeitung fNro. 170.) verwahren zu müssen glaubte- Es ist in neuerer Zeit vielfach, und nicht ohne Grund, über das Bon­nen- und Gouvernantenwesen in Wien geklagt worden; Kinder vornehmer Fa­milien, heißt es, lernen früher Französisch als Deutsch, und man glaube ihnen mit etwas Pariser Parfüm die vollendetste Bildung gegeben zu haben. Wir wissen nicht, ob es so arg ist; wir wollen es aber annehmen. Dann erkennen wir darin eine jener pädagogischen Verkehrtheiten, an denen es in unseren Re­sidenzen nie gefehlt hat, und ein unläugbares Symptom nationaler Bewußt­losigkeit; aber man braucht keinen besonderen Accent auf dasFranzösische,, zu legen, und keine Gefahr für die Nationalität gerade darin zu sehen. Das nationale Bewußtsein würde nicht steigen, wenn dieses Steckenpferd weggewor­fen und dafür ein anderes Mode würde; denn diese Unsitte ist nicht der Grund, sondern gehört nur zu den vielen Anzeichen und äußeren Folgen der inneren Schwäche. Ein Publizist scheint uns daher allerdingseinseilig", wenn er blos gegen das Symptom polemisirt, statt auf den tiefern Grund hinzuweisen. Es wird wenig helfen, wenn man dem modischen Wiener dcmonstrirt, er müsse stolzer auf sein Dcutschthum sein, so lange man ihm nicht Gelegenheit ver­schafft, die gerechten Gründe dazu an sich selber zu erleben. Man arbeite für die Stärkung des österreichischen Deutschthuins durch bürgerliche Emancipa-