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Juden, die sich paßlos oder mit abgelaufenem Paß über der Grenze betreffen lassen*), sollen nach dem Gesetz über Ausreißer und Land laufer behandelt werden ; auch wenn ihr Geburtsort bekannt und ihre Gemeinde bereit wäre, sie zu reclamiren. Sie sind an's Militär abzuliefern, ohne Rekrutcnanrechnung, d. h. ohne daß ihre Gemeinde darum einen Mann weniger zu stellen brauchte. Wenn sie zum Militärdienst untauglich sind, sollen sie zur Strafarbeit Verwender, und wenn sie auch dazu nicht taugen, mit ihren Weibern „zur An- siedlung" nach Sibirien geschickt werden.
Wird man nicht bald von der russischen Grenze diesen Mas berichtigen? Wir sind begierig, wie man dies anfängt. Wenn man nicht beweis't, daß er eine Lüge ist oder daß russische Mase nie zur Ausführung kommen oder daß sie das Gegentheil von dem bedeute», was sie sagen, so wissen wir nicht, wie man seine Wirkung auf die Gemüther paralysiren will. Vielleicht muß Czar Nikolaus seine Mase mit so ehernem Finger schreiben, weil er sein Volk genau kennt und weiß, daß die „slavische Weichheit" seiner Kosaken und Gensdarmen dieselben ohnedies in der Ausführung mildert. Freilich. Wenn man bedenkt, mit welcher Buchstäblicher, mit welcher Willkür gegen freie Ausländer verfahren wird, die der Grenze nicht vorsichtig genug ausweichen**), so wird man' sich denken können, was eine kaiserliche Ordre gegen die Juden, gegen russische Juden zu bedeuten hat; daß sie die ganze jüdische Bevölkerung unter polizeiliche Aufsicht stellt, daß der gemeine Muschik oder Straßnik sie als seine gute Prise betrachten, sie brandschatzen, quälen und treten kann nach Belieben. Das Schicksal eines Menschen vom Ablaufen seines Paffes abhängig zu machen! Im civilisirten Europa reisen Tausende in ihrem Vaterlande ohne Paß, im Auslande mit längst abgelaufenen Pässen. Wie kann man auch in solchen Dingen strenge Bestimmungen treffen, wo die haarscharfe Linie des Gesetzes so leicht überschritten ist! Der Geschäftsmann, der Arzt, der Reisende überhaupt, der von tausend Zufälligkeiten abhängt — ein Tag der Säum-
*) Es ist unklar, welche Grenze gemeint ist. Wenn es die Grenze des Reichs überhaupt ist, so wäre der Ukas gegen jene Juden gerichtet, die aus Verzweiflung auszuwandern suchen, würde aber dann nothwendig die Erneu- rung des Cartells mit Preußen voraussetzen. Es sind ihnen aber auch im Innern des Reichs gewisse Grenzen angewiesen, die sie ohne specielle Erlaub- nisi nicht überschreiten dürfen. So dürfen sie nicht nach Moskau und in die östlichen Gouvernements.
Dc>s Wort ist nicht übertrieben. Unlängst fuhren zwei Preußen aus einem preußischen Dorf nach einem anderen und verirrten sich des Abends im Schneegestöber um einige Schritte über die Grenze, die dort quer über einen gefrorenen See lief. Sie wurden ergriffen, mit Kette» beladen in's Gefängniß geworfen und erst für ein bedeutendes Lösegeld auf die Reklamation ihrer preussischen Behörde zurückgelassen. Dies meldete selbst die Allgemeine Königs- bcrger Zeitung.
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