400
Mal horte ich die Fremden ihre Verwunderung über die ungestörte Art ausdrücken, mit welcher wir solche Orte besucheil. Nicht etwa, daß man den wohlgekleidetcn, den höheren Ständeil angehörenden Mann mit mehr Höflichkeit oder wohl gar mit Kriecherei empfinge: im Gegentheil« man beachtet ihn nicht. Der Wiener ist in dieser Beziehung bis tief in die unterste Classe Großstädter. Costüme und Manieren werden nicht krähwiicklerisch von ihm begafft. Alls allen öffentlicheil Plätzen herrscht eine vollständige Gleichheit der Stände, nicht als Resultat einer politischen Bildung wie in Paris, sondern als Folge eurer gewissen Herzensbildung, einer heitern und versöhnlichen Gemüthsstimmung. Der Berliner mit seinem schärferen ätzenden Verstände faßt das Drückende des Proletariats heftiger auf. Er rächt sich höhnisch an Euch, wenn Ihr in seine Kreise kommt, dafür, daß Ihr ihn aus den Eurigen ausschließt. Der Wiener Volksmann ist beschränkter in seiner Auffassung, aber biederer in seinem Wesen; er macht die Ansprüche nicht wie sein norddeutscher Bruder, weil er weniger eitel ist und weil Euer schönerer Rock und Euere besseren Stiefel überhaupt nicht so sehr der Gegenstand seines Neides, seiner Wünsche sind. Zudem gesellt sich noch der Umstand, daß der gemeine Mann in Wien weit öfter in Gesellschaft der vornehmeren Classen lebt als der Berliner. Die reizende Lage der österreichischen Hauptstadt, die Naturschönheit der Umgebungen, die bedeutend mildere Luft versetzeil einen großen Theil der gesellschaftlichell Freuden ins Freie. In keiner Stadt Deutschlands gibt es so viele öffentliche Garten und Unterhaltungen im Grünen wie in Wien. Auf dem Wasserglacis, im Prater, in Döbling, Hietzing, Meidling, wo beim ersten und letzten Strahl der Sonne die Wiener Heiterkeit sich con- ceiltrirt, gibt es keine Kastenuntcrschiede. Hier sitzt der Handwerker neben dem Staatsrath, der Hausmeister neben dem Aristokraten in gleicher Ungcbundenheit. Was Gesetz und Vorurtheil bei verschlossenen Thüren trennt, das findet sich in der offenen Natur fröhlich zusammen. In Berlin, wo die Natur so kärglich sich gezeigt hat, wo die Luft schärfer, die Sommerfreuden spärlicher sind, concentrirt sich die öffentliche Erholung in Kneipen, Kaffeehäusern und Casinos. Der gemeine Mann ist. dadurch mehr und länger von den gebildeten Ständen getrennt und ist daher auch roher und erbitterter.
Ich muß hier zu Gunsten des österreichischen Volköcharakters ein