458
half sich hier und dort durch einen finsteren Durchgang und ließ lieber die Straßen immer mehr und mehr verengen, als daß man eingerissen hätte, was im Wege stand. Nun zeigen sich die Folgen. Wo die Circulation am stärksten ist, wo der Volksfleiß, das Lebensbedürfniß, der natürliche Weg, seine Ausgängc sucht, da ist die Stadt verstopft. Am Lugeck, am Haarmarkt, an der Ecke des Kohl- markteö und der Herrengasse fahren die Wagen aus den entgegengesetztesten Richtungen einander in die Nippen. Der vierspännige Wagen der Aristokratie und der flinke bürgerliche Fiaker drohen einander über den Haufen zu rennen, der Fußgänger sucht schreiend dort und da durchzuschlüpfen, und nicht jeder kommt Mit heiler Haut davon. Vergebens sinnt man auf Mittel, um abzuhelfen; le s-üt s'est -^c- cnmpli! Es ist nun einmal so! Man muß durch Geschicklichkeit, durch Warten, durch Ausweichen und behende Wendungen durchzukommen suchen. Man hat Polizeisoldatcn auf allen Ecken aufgestellt, um den Zudrang in Schranken zu halten, um den Naschen in die Zügel zu fallen. Wohl dem, der im Wagen sitzt; ihm ist wenigstens die Hälfte erspart, er kann in seinen weichen Polstern gemächlich warten und zusehen. Aber der Fußgänger, der Proletarier, ist der Gefahr, dem Koth, der Grobheit des Polizisten und der Brutalität der kutschirenden Livrve ausgesetzt, die in ihrer Bedicntennatur sich gegen die Untenstehenden roher und grausamer zeigt, als wohl Der Herr, der drin sitzt, ihr aufgetragen hat.
Wie viel Zeit brauche ich für Berlin — fragt der Reisende, der blos die äußeren Physiognomien der Städte kennen lernen will. — „Sechs bis acht Tage" ist die Antwort. — Und für Wien? — „Drei Wochen zum wenigsten."
Woher dieser Unterschied? Allerdings hat Wien eine doppelte Einwohnerzahl; allein die Zahl der Einwohner gibt hier nicht den Allsschlag. Es ist ganz gleich, ob man fünfzig Pariser oder deren hundert gesehen hat. Kunstschätze hat Berlin allerdings nicht in so großartigen, zahlreichen Sammlungen wie Wien. Allein um Galerien zu studiren, reichen drei Wochen eben so wenig aus als acht Tage.
Eine Hauptursache, weshalb Wien nicht mit einem so flüchtigen Blick abgethan werden kann, wie Berlin, liegt in der größeren Mannigfaltigkeit des Wiener Volkslebens und der Wiener Gesellschaft. Die militärische Erziehung, die Einheit der Gesetzgebung, der Sitte,