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Was Berlin vor Wien voraus hat, das ist seine Zuversicht zu sich selbst, das Vertrauen auf sein eigenes Glück. Friedrich Wilhelm I. sagte an einem schönen Morgen zu sich selbst: Ich will mein kleines Land zu einem Königreich erheben; ich habe zwar weder so viel Unterthanen wie der König von Frankreich, noch so viele Gebiete'wie der König von England, ja manch kleiner König wird über mein winziges Königreich spotten — aber dem Muthigen hilft das Glück. Es gilt den Anfang, das Weitere wird sich finden.
Und dao Weitere fand sich! —
Wir müssen eine große Residenz anlegen, sagten die Erbauer des neuen Berlin. Zwar liegt die Stadt in einer ärmlichen, sandigen Gegend, sie bietet keinen Durchgangs- und Ruhepunkt sür einen großen Welthandel — aber machen wir die Straßen nur immerhin so groß und breit, als ob sich eine ganze Provinz darin ansiedeln wollte. Die Einwohner werden sich schon einstellen.
Und sie stellten sich ein.
Wie durch eine Wünschelruthe erfüllte sich, was die Begründer des preußischen Staates und seiner Hauptstadt kaum in ihren kühnsten Träumen erhofften. Dieses Gelingen seiner Unternehmungen gibt Berlin ein Selbstvertrauen, das oft in widerliche Arroganz ausartet, daö aber doch ein Keim großer, kräftiger Erfolge ist. Wie die meisten Emporkömmlinge, ist Berlin eitel, hochmüthig und oft sich überschätzend, aber es hat auch wie die meisten, die ihre Stellung durch Fleiß, Ausdauer und Kühnheit errungen haben, das Bewußtsein, daß es die elastische Kraft in sich trägt, die seinem Ehrgeiz zu weiteren Zielen und seinen geheimen Wünschen zur endlichen Erfüllung helfen kann.
Wenn Berlin auf solche Weise dem modernen Bürger gleicht, der sich durch Thätigkeit und geschickte Benützung des Augenblicks über den Privilegium Adel emporgeschwungen hat, indem er ihm seine Bortheile allinälig aus der Hand gewunden, so gleicht Wien im Gegensatze gerade einem jener alten aristokratischen Majoratsherren, die seit Jahrhunderten gewöhnt sind, im Wohlleben zu schwelgen und die daher mit Indolenz jedem kommenden Tag entgegensehen, an dem ihr Kammerdiener sie wieder ankleiden wird, an dem sie wieder vortrefflich diniren, zu Hofe fahren, in'ö Theater gehen werden oder höchstens durch ein neues Reitpferd, eine neue
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