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vielen, vielen Wochen noch immer Interesse für Ereignisse, die cS viele, viele Wochen früher schon Nichts angingen. Das deutsche Volk ist nämlich ein Volk von Denkern! Nicht zu vergessen!
— Alle Zeitungen melden jetzt angelegentlich, daß Balzac in Petersburg eine laue Aufnahme gefunden; wir bezweifeln dies um so mehr, als man auch von ihm ein Buch über Nußland erwartet. Der Grctsch-Custine'sche Streit wirft übrigens ein seltsames Licht ans unsere offizielle Presse. Gretsch's Machwerk spricht unwillkürlich für Custinc: Die Katze will erklären, daß sie keine Katze ist, und — miaut; eben so wenig sagen Tolstoi's gezwungene Scherze und ausweichende Spöttereien. Dennoch regnet eS bei uns Schmähungen über Custinc; man beruft sich sogar diesmal auf Kritiken Pariser Parteiorgane. O deutsche Gründlichkeit! Die Franzosen wissen von Rußland weniger als Nichts, Viele wünschen die russische Allianz und den Meisten ist der Gegenstand so glcichgiltig, daß sie nur daran denken, den aristocratischcn Marquis bei guter Gelegenheit abzutrumpfen — Man schämt sich nicht, Custine's Privatcharaktcr eben so allgemein hin zu bcflüstern, weil Grctsch über ihn allerhand gehört haben will. Was? sagt er freilich nicht. Ein
in Leipzig lebender Russe L.......n hat in der Deutschen Allgemeinen
Gretsch's Broschüre meisterhaft, wahrhaft und ehrlich genannt und damit sogleich den Ton angegeben für die offiziellen Scribcntcn, die jetzt ganz im preußisch-allgemeinen BerichtigungSstyl von Custine's Böswilligkeit und Lügenhaftigkeit reden. — Alles iu majorem (^»««aris xlo- i'j^m! Ein gcist- und kenntnißrcicher Publicist besprach in der AugS- burger Allgemeinen Custine's Werk mit jener künstlich gewundenen, zweideutig schielenden und schillernden Manier, worin es leider unsere Presse zur beispiellosen Virtuosität gebracht hat; er sucht Custine's Darstellung aus katholischer Intoleranz abzuleiten, deutet aber selbst an, daß die Kirche Rußlands Achillesferse sei. Wir glauben, cS gehört keine große Intoleranz dazu, um ein Grauen vor der todten, gemüth- und schwungloscn griechisch-russischen Kirche zu empfinden; und gewiß ist sie großenthcils die Quelle oder der Ausdruck jenes platt-materialistischen, schlangenglattcn und schlangenkaltcn Wesens, wodurch Nußland uns eben so gefährlich als verhaßt ist. Dieser eigenthümlich russische Gcist abcr ist cs, den Custine's scharfer Griffel meisterhaft gezeichnet hat; die Wahrheit dieser Zeichnung ist nicht widerlegt, nicht einmal bestritten. Ob die Petersburger Bauten vom Winterfrost so viel leiden, wie C. sagt und wie Grctsch läugnct, auf solche Acußerlichkcitcn kommt cs wahrlich nicht an; auch die einzelnen Gcschichtchcn von russischer Barbarei mag Grctsch kritisircn. Wir haben dergleichen nicht zuerst von Custinc gehört; ungclehrtc Reisende jedes Standes bringen uns ja täglich neue Kunde von viel crasscrcn Fällen; die Berührungen mit Rußland sind ja so häufig, daß man den Augenschein der Vcr-