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in die verlebte Novcllcnliteratur, wie sie auch in: Drama längst überwunden ist, wo sie sich als Gattung geltend machen wollte.
Die Dornen, Erzählung von Wilhelm Müller, ist in lebendiger, anschaulicher Weise geschrieben. Eine moralische, ernste Grundlage trägt das Ganze. Eleonore, die Heldin der Novelle, erzählt einer Freundin die Geschichte ihres Lebens, — ein Bekenntniß kalten Stolzes, herzloser Eitelkeit, wodurch sie über den ihr ergebenen, aber verschmähten Liebhaber empörende Prüfungen, über ihren Vater und sich selbst das äußerste Elend häuft. — Schon als Kind zeigt Eleonore jene Grausamkeit, welche, weil sie aus dem Naturell stammt, aller Folgen spottet. Ein blondlockiger, inärchencrzählcnder Knabe, Sohn des Malers Mohrahl, soll ihr eine Nose pflücken, die von einem Abhaugc der Tbarandter Hügel das Auge des Kindes lockt. Der Knabe kann sie nicht erreichen, da drückt die erzürnte Kleine ihm das Gesicht in die Dornen, er stürzt, und wird unten in der Felskluft, blutend, mit gräßlich zerfurchtem Gesicht aufgehoben. Diese Unart ist das Vorspiel zu mehreren, der ersten nicht sehr unähnlichen Scenen. Die Vergnügungen der großen Welt, die gleißende Schmeichelei der Gesellschaft, ersticken in der juugcu Dame jedes tiefere Gefühl. Mehr als einmal wagt der Jüngling das Leben für eine Laune des stolzen Mädchens. Mehr als einmal werden wir über die Schluchten, an die Felscnrändcr der sächsischen Schweiz geführt. Eleonore schenkt ihre Hand, ohne Liebe, dein Baron Edgar, ciuem treulosen Glücksjägcr, welcher in den Tagen der Befreiungskämpfe zu den Franzosen übertritt, indem cr das gesammte Vermögen seines Schwiegervaters mit sich nimmt. Der Alte fällt darüber in Wahnsinn. Im Verein mit ihrem unverbrüchlichen Freunde uud Helfer in der Noch —denn sie ist jetzt aller Mittel beraubt — widmet sich die Tochter der Pflege desselben. Dennoch verläßt sie den Freund und Vater, verlockt von ihrem Gatten, dessen Verrath in ihren Augen durch Gold uud Rang überstrahlt wird. Der Vater stirbt vor Gram. Um diese Zeit fällt die große Schlacht von Leipzig in die Geschichte ein. Am dritten Tage eilt Eleonore auf das Feld; sie sieht, wie ihr Gemahl auf dein Flusse, von einer Kugel getroffen wird; Mohrahl rettet, auf ihr Geheiß, den Todtverwundeten ans Ufer, wird aber selbst von der Gewalt der Fluthcn und des Getümmels in den Strom zurückgeworfen. Es findet sich zuletzt, daß Edgar mit einem zweiten Weibe vermählt war. — „Ich hatte kein Mitleid mit seinem Sterben, und es war mir, als müsse ich im fühllosen Hohn wie cr auflachen. Da ich aber mein Auge abwandte, sicl es auf den Armen, den ich, um des Falschen willen, in