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P.-:Schauspiel und Schauspieler : zur Charakteristik der Zeit. 1. : Die Schattenseite.
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ihres Herzens, ihrer Sinne und Leidenschaften, kurz, ihres ganzen Sems, zu Gunsten eines Individuums, das in Wahrheit über dieses Reich herrscht, und dieses Volk nach Willkühr unterjocht. Der Gott, der von seinem Him­mel herabzusteigen geruht, braucht sich nur zu zeigen, und auf jedem seiner Schritte kömmt Anbetung und Vergötterung ihm entgegen. Und ist das Fest geendet, und sind die Lichter ausgelöscht, folgt ihm, der so eben noch Halbgott war. Eine glänzende Karosse bringt ihn in üppige Gemächer, wo er stolz ausruht von seinen süßen Strapazen, und Beifall und Nnhm träumend, einschlaft. Und damit an diesen, ganz lchensherrlichen Vor­rechten nichts fehle, so bezahlt ihm eine fast fürstliche Civilliste reichlich alle ihm erwiesenen Ehrenbezeugungen.

Fragen wir uns aufrichtig, ob nntcr den bcgünstigstcn Classen, auf den Höhepunkten der Gesellschaft irgend eine also verschönte und blühende Eristcnz anzutreffen ist, wie die des Thcatcrmcnschen. Umsonst sucht man auf der Stufenleiter der Hierarchie, umsonst in allen Ständen und Lebens- vcrhältnissen, nirgends findet sich ein Beispiel von so viel Gedeihen, Gnnst und Genuß. Nicht der General, nicht der Staatsmann, nicht der Ncchts- gclehrtc, nicht der Professor, nicht der Schriftsteller, nicht der Künstler, genießt ein Loos, das sich mit dein des Schauspielers und Säugers ver­gleichen läßt. Kein Lebcnsberuf bietet von Anfang an so glückliche Hoff­nungen dar und läßt so wenig Widerwärtigkeiten befürchten. Ist denn wirklich das Verdienst des Säugers erhabener als alle andern Verdienste? Ist wirklich der Nutzen einer Tänzerin größer, als die Dienste, welche die größten Bürger dem Staate je geleistet haben?

Berechnen wir ruhig, worin besteht im Reiche der Kunst die Gcistes- that des Schauspielers und Sängers? Rechnet man einige dieser seltenen dramatischen Erscheinungen hinweg, die, wie Talma uud die Malibmn, sich in einem Sprunge den schöpferischen Genies gleichstellten, so muß man sich selbst gestehen, ihr Beruf ist ein untergeordneter. Sie übersetzen uns einen Gedanken, der ihnen nicht angehört. Sie machen die geheimniß- vollen Schöpfungen des Genius unserm Geiste begreiflich und führen sie unsern Sinnen vor. Wohl! Aber dieser Beruf unterscheidet sie nur wenig von jenem, welcher versteht einen Gedanken aus einer unbekannten in eine be­kannte Sprache zu übertragen, aus eiuer dunkeln und stummen Forin in eine concrcte und lebendige. Sie sind ungefähr das, was der Colorist sein muß, der eiue ihm gegebene Zeichnung mit Farben überzieht. Ihre Kunst ist nur eine sccundärc. Ueber ihnen, weit über ihnen, stehen die auscr- , Wählten.Geister, die selbst ein originelles Werk erfinden. Von diesen un­mittelbaren Erzeugern des Gedankens schreibt sich offenbar die erste Ursache unserer Rührung, die uranfängliche Entwickelung unserer Einsicht her. Und