Auch ein deutscher Literarhistoriker.
or etwa einem Jahre war im „Magazin für die Literatur des Auslandes" oder in irgendeinem andern Blatte dieser Gattung eine Ankündigung eines Herrn Dr. Otto Weddigm zu lesen, worin er das Erscheinen einer Geschichte der deutschen Volksdichtung in Aussicht stellte und die gelehrte Welt Deutschlands aufforderte, ihm thätig dabei zur Hand zu gehen durch Übermittelung schwer zugänglichen oder ungedruckten Materials. Jedem, dem der Name und die schriftstellerische Thätigkeit des genannten Herrn bisher verborgen geblieben war, mußte nach diesem Trompetenstoß ein großes Schauspiel erwarten; wer freilich Herrn Wcddigen schon aus feinen frühern Schriften kannte, wußte, daß er auch in diesem neuesten Werke nicht in eigner Tracht, sondern in einem stückweise von verschiedenen Seiten her erborgten und stümperhaft zusammengestoppelten Aufputze erscheinen würde. Wer da glaubt, wir thäten mit einem solchen Urteile dem Verfasser unrecht, mag mit uns das Büchlein etwas näher ansehen.*)
An einer Stelle des Vorwortes endigt Herr Weddigen mit den Worten, daß es nicht in seiner Absicht liege, einer sachkundigen Kritik vorzugreifen, eine Selbstkritik, die bescheidentlich in dem Satze gipfelt: Ich habe mit dieser meiner Geschichte der deutschen Volksdichtuug mich einer Arbeit unterzogen, die wegen ihrer „fast unüberwindlichen Schwierigkeiten" bisher noch von keinem Literarhistoriker Deutschlands auch nur versucht worden ist; dafür möchte ich aber auch meinen redlichen Lohn haben. Worin dieser Lohn bestehen soll, davon später. Zunächst haben wir garnicht eine vollständige Geschichte der deutschen Volksdichtung vor uns, sondern nur den Teil derselben, welcher in die Neuzeit fällt; sehr natürlich, denn um in die ältere Zeit einzudringen, dazu genügt nicht eine vielleicht einjährige oberflächliche Beschäftigung mit dem Stoffe, dazu gehören eingehende Sprachstudien und historische Kenntnisse, die nicht Herrn Weddigens Sache sind. Ist schon so die ganze herrliche Volksliteratur des Mittelalters von der Darstellung einfach ausgeschlossen, so wird das Mißverhältnis zwischen dem erwähnten Ausspruche und der wirklichen Ausführung des Unternehmens noch klaffender, wenn man sieht, wie unvollkommen auch die Neuzeit behandelt ist. Die epische Volkspoesie wird auf dem Raume von dreißig Seiten abgethan, der dramatischen gehören gar nur sechs Seiten dieses mit
*) Geschichte der deutschen Volkspoesie seit dem Ausgange des Mittelalters bis auf die Gegenwart. Von vr. F. H, Otto Weddigen. München, Callwey, 1S84.