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Die Hildebrand-Ausstellung in Berlin.
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Die Hildebrand-Ausstellung in Berlin.

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der Thätigkeit selbst entwickelt und jede neue Aufgabe sicherer, unbefangener und bewußter ergriffen hat. Wohl mag sein erstes Urteil, welches von den un­berechenbaren Mächten des Gefallens und Mißfallens gefüllt wird, einzelnen Werken günstig, andern ungünstig sein; vielleicht besticht ihn der jugendliche Zauber, der auf der Figur des schlafenden Hirtenknaben ruht, während er bei der großen männlichen Marmorfigur den Reiz einer einschmeichelnden Stimmung vermißt; vielleicht mutet ihn das Motiv des Trinkers mehr an als das des Wasserträgers, die Grazie der sitzenden Brunnenfigur mehr als die Derbheit des Schweinetreibers, vielleicht zieht ihn die außerordentliche Anmut des großen Terracottareliefs einer Mutter mit ihren drei Kindern so sehr an, daß ihm einige andre Porträts allzu herb und aufrichtig vorkommen; aber alle diese ersten Eindrücke werden ihm oberflächlich und wertlos erscheinen, sobald er sich in jene tiefere Betrachtungsweise versenkt. Er wird alle seine voreingenommenen Standpunkte nnd all sein Kritisiren vergessen, weil er einsieht, daß der Künstler keinesfalls etwas von ihm, er aber jedenfalls recht viel vom Künstler lernen kann. Und indem sich sein Verhältnis zu der Thätigkeit, die sich ihm darstellt, immer näher, immer lebendiger gestaltet, indem er sich gleichsam in die Beziehung des Künstlers zur Natur hineingezogen, sich selbst von dem künstlerischen Bedürfnis ergriffen fühlt, wird ihm auch die Frage fern und ferner treten, wie sich denn das, was er hier geleistet sieht, zn dem verhalte, was andern früher auf gleicher Bahn schon gelungen sei, was spätern vielleicht wieder gelingen könne. Man hört heutzutage oft genug von den einen die künstlerischen Leistungen unsrer Zeit dreist neben, vielleicht über die Werke der Vergangenheit stellen, von den andern jedes künstlerische Bemühen als vergeblich und aussichtslos achten, weil es die Vorbilder, die uns die großen Zeiten hinterlassen hätten, bei weitem nicht erreichen könne. Die einen haben so Unrecht wie die andern. Gewiß werden gerade dem einsichtigen und aufrichtigen Künstler selbst die Leistungen seiner großen Vorgänger als etwas Unerreichtes erscheinen, ebenso gewiß aber ist es für den geistigen Znstand der Menschen weit weniger wichtig, daß der Reihe unübertroffener Leistungen neue Glieder zugefügt werden, als daß nur überhaupt die in der unverfälschten künstlerischen Thätigkeit zum Dasein ge­langende Naturbeziehuug der Welt nicht gänzlich abhanden komme. Statt zu vergleichen, sollte man sich vorerst bemühen, die künstlerische Bethätigung, wo sie in einer von andern geistigen Tendenzen beherrschten Zeit auftritt, zu er­kennen. Nicht dann wird man den höchsten Maßstab nn künstlerische Leistungen anlegen, wenn man sie mißt an jenen höchsten Werken, sondern dann, wenn man zu entscheiden vermag, ob sie dem Gebiete rein angehören, ans dem nnter günstigeren Umständen jene Werke sich haben entwickeln können. Die Zeit ist nicht überreich an Zeugnissen echter künstlerischer Kraft; wer die ausgestellten Arbeiten Hildebrands ihrem Sinn und Wesen nach sich aneignet, der wird es fühlen, daß diese Kraft hier lebendig ist.