Literatur.
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sich hervorzuthun berufen sei, daß gewisse Charaktereigenschaften sich durch Jahrhunderte uud Jahrtausende fast unverändert erhalten u. f. w. Und wir meinten, daß solche Charaktereigenschaften auf die Geschicke der Völker einen großen Einfluß gehabt haben, nnd daß daher im Politischen Leben, im Machen der Geschichte der Gegenwart, auf das Rücksicht genommen werden müsse, was die Geschichte der Vergangenheit zeigt. Nun aber erfahren wir, daß auf dergleichen „zufällige Umstände" garnichts gegeben werden dürfe, sondern nur ans die nichtzufälligen, z. B. in diesen: Falle darauf, daß Herr Ludwig Löwe es von bescheidenen Anfängen zu Reichtum gebracht hat. Die Logik mag hier sein: wer für eigne Rechnung sogut zn wirtschaften versteht, der wird auch die Nation reich machen — ein Satz, welcher allerdings durch die Erfahrung eher widerlegt als bewiesen wird, aber diesen „zufälligen Umstand" mit den meisten Sätzen der löblichen Fortschrittspartei gemein hat. Eins möchten wir freilich wissen. Wenn Herr Träger in einem Berliner Restaurant ein Feldhuhn bestellt und man bringt ihm eine gebratene Krähe — wird er sich dann seiner Theorie von den „zufälligen Umständen" erinnern nnd die Krähe ohne Murren verspeisen?
Literatur.
Das Gefühlsleben. Von Joseph W. Nahlowsky. Zweite, durchgesehene und verbesserte Auflage. Leipzig, Veit und Co., 1884.
Der Verfasser bietet hier in vorgerücktem Lebensalter, aber mit jugeudfrischem Herzen eine zweite Auflage seiner trefflichen, zuerst vor zweiundzwanzig Jahren erschienenen Schrift über das Gefühlsleben. Er ist seinen Auffassuugen uud Aufstellungen durchweg treu geblieben, sodaß der größte Teil dieser neuen Auflage mit der frühern übereinstimmt, mir hie und da mit wenigen Änderungen. Wirklich umgearbeitet hat er die Einleitung, um noch schärfer und bestimmter als in der ersten Auflage die Begriffe Empfindung und Gefühl zu scheiden und gegen den Wirrwarr der immer noch schwankenden wissenschaftlichen Terminologie sein Veto einzulegen. Empfindungen sind ihm: vom organischen Leibe auf die Seele übertragene Zustände, die in der Seele, welche ihnen gegenüber die Rolle eines mitinteressirlen Zuschauers hat, als primitive Gebilde hervortreten; Gefühle dagegen: abgeleitete, unmittelbar in der Seele, die dabei „die Rolle eines Schauspielers" hat, entsprungene und ihr zugehörige Zustände, Resultate sich unterstützender oder befehdender Vorstellungen. Dies vertritt Nahlowsky in der Einleitung mit einem durch lange wissenschaftliche Ausschau bewährten Bewußtsein, und ernstlich wäre zu wünschen, daß endlich alle Männer der Wissenschaft seiner klaren Terminologie entschieden folgen möchten. Außerdem hat der Verfasser besonders noch seinem Z 23 („Die Liebe") eine neue Fassung gegeben, welche das edle Gemüt des an Jahren, aber nicht am Herzen gealterten Philosophen im reinsten Lichte vor nns treten läßt. Wenn er anch der Herbartischen Schule zugehört und diese seine Herkunft nirgend verleugnet, so ist doch gerade das Gefühlsleben in seiner Eigenheit ein mehr neutraler Boden, sodaß auch nicht ans Herbarts Standpunkt Stehende die Belehrung, die der Verfasser erteilt, mit Dank annehmen und ihrerseits verwerten können. Und es ist nicht bloß Belehrung über ein jedem Menschen so naheliegendes und doch so schwer zu beleuchtendes Gebiet, die wir vom Verfasser bekommen, seine Darlegungen verschaffen bei erwünschter Verständlichkeit und Präzision ebensoviel Genuß. Man kaun dies „Gefühlsleben" mit dem Gefühl wahrer Befriedigung und erhebender Freude durchstudireu und durchleben. So wünschen wir denn dem