Zur Trinkgelderfrage.
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Gefälligkeit; läßt sich ein Knecht herbei, zu demselben Zweck seine Arbeit liegen zu lassen, so wird er ein Trinkgeld erwarten; verlange ich von ihm, daß er mich vier Stunden Weges über ein Joch führe, so wird er sich nicht auf meine Noblesse verlassen, sondern seine Forderung stellen.
Unser Urtrinkgeld nun hat verschiedne Abarten. So das „ Bestech imgs- trinkgeld" für verbotene Dienste; ich gebe es als blinder Passagier dem Kutscher, um mich mitfahren zu lassen, dem Eisenbahnschaffner, um mir das Coupe freizuhalten ?c. Dann das „Zuschlagstrinkgeld"; bei diesem ist die eigentliche Dienstleistung anderweitig bezahlt, und man giebt das Trinkgeld für eine Steigerung des bei derselben zu bethätigenden Diensteifers, der üiliAsntig, im juristischen Sinne, oder für eine andre uns vorteilhafte oder bequeme Modifikation, z. B. dem Kutscher für Pünktlichkeit und Schnelligkeit der Fahrt :c. Zum Zuschlags- triukgeld ist auch zu zählen das „Stammtrinkgeld," das Trinkgeld der Stammgäste. Der Stammgast ist für den Wirt eine besonders wertvolle Persönlichkeit und verdient als solche eine besonders rücksichtsvolle Behandlung. Dieser Anspruch richtet seine Spitze zwar zunächst gegen den Wirt, erhält aber seine Befriedigung durch eine erhöhte Anspannung der Kellnerthätigkeit. Sobald der Bauch des Stammgastes, den dieser vielleicht im Kultus des Lokals erworben hat, sich in die Thüre schiebt, eilt der Leibkellner herbei, um ihm Hnt, Überzieher, Stock cibzuuehmen und ihn beflissen zu der gewohnten Sofaecke zu geleiten, die er bis dahin sorglich und unter diversen Vorwänden vor der Ungebühr fremder Eindringlinge zu bewahren gewußt hat. Obwohl es nun Sache des Wirts wäre, diese in seinem eigensten Interesse erhöhte Thätigkeit des Kellners zu belohnen — etwa wie umgekehrt der Kaufmann bei Entnahme größerer Posten einen Rabatt giebt —, Pflegt er doch so wenig Einsicht in die wahre Sachlage zu haben, daß es dem Stammgast überlassen bleibt, das Gleichgewicht durch ein zu gelegener Zeit, etwa Neujahr, verabreichtes Trinkgelo wieder herzustellen.
Zwischen den im obigen gezeichneten drei großen Kategorien des Trinkgeldes, dem obligaten, dem Ur- und dem Gründertriukgeld giebt es nun mcmnich- fache Übergänge und Abstufungen, wie denn auch ein und dasselbe Trinkgeld mit verschiednen Umständen und an verschiednen Orten einen verschiednen Charakter annehmen kann und der Diagnose oft Schwierigkeiten bietet. Das obligate Trinkgeld, welches sehr zu Übergriffen neigt, zeigt, wie schon oben angedeutet, wenn es in die Fremde geht, um neue Gebiete zu annektiren, im Anfang nie seine wahre Gestalt, es reist stets iuooZnito, es sondirt zunächst unter der Maske des Grüudertriukgeldes den Boden und erst, wenn es sicher geworden ist, zeigt es den Pferdefuß. Selbst das Urtrinkgeld artet, wenn man es aus seinem heimatlichen Kulturboden in wilderes Feld verpflanzt, leicht aus und erscheint als Gründertrinkgeld, wenigstens dem Empfänger, der geneigt ist, dasselbe als nicht verdient zn betrachten, ja es mit Selbstgefühl zurückzuweisen. Das Gründertrinkgeld kann unter Umständen zum obligaten avancircn.