Ltwcis vom Theater.
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denken wachzurufen. Jedenfalls aber wird man uns darin Recht geben müssen, wenn wir in dieser neueren Literatur etwas Richtunggebendes, eine bessere Periode Verheißendes durchaus vermissen — man müßte denn eben jene obenerwähnte Richtung auf das französische Sittendrama hin in diesem Sinne auffassen.
Nun haben wir aber noch eine Spezialität, und gerade dieser gilt der lauteste Jubel, das lebhafteste Interesse unsers sit vem-z, vsrvo Thcaterpublikums: das ist die „Posse." Gott bewahre uns zwar davor, daß wir es je verlernen sollten, einen derben Witz zu vertragen! daß wir den Sinn für gesunden und volkstümlichen, wenn auch nicht immer sehr salonfähigen Humor verlieren sollten! daß wir kein Verständnis mehr haben sollten für die Ausbildung neuer, wenn auch einstweilen noch roher Formen eines unsern Zeitanschauungen und unsern Volkssitten entsprechenden dramatischen Lebens! Aber, so unbefangen wir der Frage gegenüberstehen mögen, ob die „Berliner Posse" nach ihrem geistigen und sittlichen Gehalte von diesem Standpunkte aus betrachtet werden kann, so scheint uns doch darüber ein Zweifel nicht möglich, daß eine Entwicklung, ein Werden und Wachsen auf diesem Gebiete schlechterdings nicht stattfindet. Die Hochflut der alten Berliner Possen, die wenigstens etwas Naturwüchsiges an sich trugen, hat sich verlaufen; Jacvbson, Willen, l'Arronge haben jetzt so ziemlich das ganze Feld okkupirt, und weder ist bei ihnen ein Fortschritt wahrzunehmen (ihre besten Frcnude werden das nicht behaupten wollen!), noch ist ein Nachwuchs aufgetreten. Nein, die „Kunstgattung" der Posse schleppt sich eben hin, weil das Publikum „diesen Geist begreift" und solcher Kunstwerke würdig ist, nicht weil irgendein Drang von innen heraus die Produktion von Stücken einer bestimmten Art mit einem instinktiven Volksbedürfnis in Verbindung brächte. Das Publikum ist gewöhnt worden, sich seine stumpfen Nerven mit Possen kitzeln zu lassen; gut, schreiben wir ihm Possen, und zwar recht stark gepfefferte, damit doch auch eine „Steigerung des Interesses" stattfinde! Worin diese „Steigerung" zu bestehen pflegt, nun, das ist nicht schwer zu erraten. Soweit wie die Franzosen mit ihrer Lione a>ux dois haben wir's zwar noch nicht gebracht, aber doch weit genug. In dem vielbesprochenen «Jüngsten Leutnant" z. B. vermögen wir eine andre Idee nicht zu erblicken, als daß, nachdem Jahrtausende der Kulturentwicklung daran gearbeitet haben, eine Schranke zwischen den Geschlechtern aufzurichten, jetzt den heranwachsenden jungen Leuten die Art gelehrt werden soll, wie man sich in recht schamloser Weise dem andern Geschlecht an den Kopf wirst. Das sind die Reizmittel, mit deren fortwährender Steigerung man sich abmüht, und letzteres ist der leitende Gedanke für die ganze Possenfabrikation und Possenanfführung.
Hiernach glauben wir, soweit dies im Nahmen einiger kurzen Andeutungen möglich ist, unsre geringe Wertschätzung des heutigen Theaters hinlänglich mo- tivirt zu haben. Aber vielleicht findet die so ungleich größere Wertschätzung,