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Etwas vom Theater.
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Gtwas vom Theater.

lichen Sitte ihre Glorifikation oder ihre Verurteilung findet. In beiden Fällen steht das Theater unter einer höhern Kategorie als unter der des Mißfallens oder Wohlgefallens es ist eine Notwendigkeit, und ebenso die Wertschätzung, die ihm gezollt wird. Was aber ist das Theater uns? Wir wissen wohl, daß viele entsetzt oder wutschnaubend auffahren, wenn wir wagen, es offen aus­zusprechen: unser Theater ist eine Vergnügungsanstalt. Mag sein, daß es hie und da im einzelnen über diesen Rahmen hinausgeht, im großen und ganzen ist es, wir getrauen uns hierüber das Urteil aller Unbefangenen anzurufen, nichts andres, und der sittliche Wert der Vergnügungen, die es gewährt, ist obendrein sehr oft ein mehr als zweifelhafter.

Wir rühmen uns unsrerklassischen" Stücke und des Eifers, mit welchem wir auch Shakespeare und andre Auslandsklassiker auf unsrer Bühne heimisch gemacht haben. Das wäre ganz schön, wenn man von diesem Klassizismus in dem täglichen Treiben unsrer Bühnenwelt auch etwas ernstliches spürte; aber niemand wird im Ernste behaupten wollen, daß dies der Fall sei. Den Grundstock der Stücke, von denen unsre heutige Bühne lebt und denen das Theaterpublikum noch das verhältnismäßig stärkste Interesse entgegenbringt (weit ist es mit diesem überall vorausgesetzten, aber schwer wahrnehmbaren Interesse überhaupt nicht her), bilden die Übersetzungen französischer Stücke und diemodernen Klassiker" Mosen, Wildenbruch, Wilbrandt, Putlitz, zu denen dann noch Gutzkow, Halm, Lindner, Kruse, allenfalls Grillparzer treten; und unter den letzteren wieder sind unzweifelhaft am beliebtesten diejenigen, welche sich in Faktur und Tendenz den französischen Sensationsstücken am meisten annähern. Bedeutet dies, daß wir auf dem Wege zu französischen Theater- und demgemäß auch zu französischen Sittenzuständen sind? Es mag wohl sein, daß mancher dies nicht nur für ein notwendiges, sondern anch für ein erfreuliches Ziel hält; wir unsrerseits wissen hierüber nichts kräftigeres zu sagen, als daß die Verurteilung eines derartigen Zieles doch wohl schon in der That­sache liegen dürfte, daß schwerlich jemand in Deutschland den Mut haben wird, dasselbe offen einzngestehcn. Unsers Erachtens ist die Sache die, daß der Kitzel derartiger Stücke eine Menge jedem ästhetischen Verständnis so fern wie nur möglich stehender Personen ins Theater lockt, daß selbst große Kreise des besseren Publikums sich diesem der Zeitströmung so vielfach kongenialen Kitzel nicht entziehen können, daß es ein zugleich verständnisvolles und maßgebendes Theaterpublikum überhaupt nicht giebt, und daß daher die Direktoren sich eben mit leichter Mühe auf die Bahn drängen lassen, das Sensationelle in den Vordergrund zu stellen. Wir schreiben hier keine Monographie über die moderne Theaterliteratur. Gewiß weist dieselbe vieles Beachtenswerte und vieles auch von strengerem Standpunkte aus als gut Anzuerkennende auf; aber wir glauben nicht auf großen Widerspruch zu stoßen, wenn wir sagen, das geistig und formell Bedeutendste darunter sei andrerseits leider dazu angethan, mindestens schwere Be-