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Johannes Brahms.
gehen. Sie blieben zum Teil am Äußern haften. Sehr drollig tadelte ein Kritiker die vermeintliche Kürze der Mittclsätze: ihre Seitenzahl in der Partitnr sei im Vergleich zu derjenigen der Ecksätze auffällig gering. Dem Gelehrten war bei diesem Beweise die Kleinigkeit entgangen, daß im Adagio und Allegretto jede Seite zweimal zählt, da infolge der schwächeren Besetzung jede Seite zwei Systeme der vollen Partitur enthält. Andre vermißten wieder als langsamen Satz einen Gesang g, 1s, zweite Symphonie von Schumann oder s, 1a neunte von Beethoven, und der Mangel eines Scherzo wurde so vielfach bedauert, daß man annehmen könnte, es sei noch nie eine Symphonie ohne Scherzo geschrieben worden. Gerade darin, daß die beiden Mittelsätze der O-inoll-Symphonie so sind, wie sie sind, ist nach unsrer Ansicht ein Hauptzeichen einer selbständigen Schöpferkraft zu erblicken. Die abweichende Form dieser Sätze ist aus der poetischen Grundidee des Werkes vollständig organisch hervorgewachsen — sie stehen äußerlich und innerlich auf dem Boden, den die Natur des ersten Satzes vorbereitet hat. Diese beiden Sätze sind nach unsrer Meinung die ersten Anzeichen, daß Brahms in die formelle Entwicklung der symphonischen Kunstform eingreifen wird. Von der Verstimmung, welche diese Symphonie bei den Parteigängern verschiedner Observnnz erregt hat, möchten wir lieber schweigen. Diejenigen, welche die Todeserklärung der symphonischen Form für ernst genommen hatten, waren gleichmäßig mit denen, welche immer noch die Kanoni- sirnng der „symphonischen Dichtungen" erwarteten, über eine neue Symphonie betroffen, welche alle theoretischen Kartenhäuser unerbittlich niederwarf. Einstweilen gönnen wir ihnen das Vergnügen, das Werk für ein Phantom, für einen nachgemachten Beethoven zu erklären. Nur gemach, gemach! Diese Symphonie wird leben, wenn unsre Namen, unsre Diskussionen, unsre Schreibereien bis auf die letzte Spur vergessen sind!
Der Versuch, das Verhältnis der Symphonie von Brahms zu den von Beethoven festzustellen, muß nach unsrer Ansicht über kurz oder lang ausführlich und ernstlich gemacht werden; er ist zur Klärung der Anschauungen durchaus notwendig. Über das Nesnltat hegen wir keinen Zweifel: es kann nur den eignen Wert und die Selbständigkeit der Symphonien von Brahms konstatiren. Sie sind Kunstwerke von eminent dichterischem Gehalte, sie schließen an Beethoven an, gerade sogut wie Beethoven an Vorgänger anknüpfen mußte, aber sie bewegen sich in den überkommenen Formen mit einer Freiheit der Gestaltung, in der man das Wetterleuchten einer neuen Epoche bemerken kann. Die zweite Symphonie (ox. 73, v-äur) zeigt uns diese Freiheit in allen Sätzen, im Finale allerdings weniger. Am ersten wird man aber den reichen, fast überreichen Ausbau der Themengruppe, das Zusammenwirken so vieler und heterogener Charaktere als eine ungewöhnliche, neue Erscheinung nicht übersehen können. Ähnlich verhält es sich mit dem dramatischen Wesen des Adagio, mit der Einrichtung des Allegretto, der statt Hauptsatz und Alternativ eine Vielheit von