Gin Franzose über Rußland und die Russen.
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Die Anlage, die der Kampf mit der kalten und unversöhnlichen Natur bei dem Großrnssen am meisten entwickelt hat, ist der praktische und positive Geist, durch den er sich vom Kleinrussen und den West- und Südslaven unterscheidet. Dieser Blick für Auskunftsmittel, diese Gabe, in allem den unmittelbaren Zweck und die reale Seite des Leben herauszufinden, dieses Verständnis für Menschen und Dinge, dem wir auch beim Judeu begegnen, offenbart sich nicht bloß in den Sitten, in der Politik, in der prosaischen Literatur der Russen, sondern auch, wie der Verfasser mit Beispielen darthut, in der Poesie, in der Kunst, besonders der Malerei, und in der Philosophie.
Die großrussischen Volkslieder zeigen wenig Sinn für Abstraktionen und Personifikationen. ... Die Lieblingswissenschaften des Großrnssen sind die physikalischen und die sozialen. Kein Volk hat weniger Sinn für Metaphysik, keins beschäftigt sich weniger mit dem Grundwesen der Dinge. . . . Die Eigenschaft, die der Bauer am höchsten schätzt, ist der gesunde Menschenverstand ^gilt doch auch vom deutschen, englischen und französischen Bauers, und das schlimmste, was er den Polen nachsagen kann, ist, daß er ihn einen Kopf ohne Gehirn nennt. Es giebt wenige Völker, denen die Sentimentalität so ganz abgeht, und die sich das mehr zum Verdienst anrechnen. . . . Der Anspruch auf Praktischen Verstand geht manchmal bis zu einer Art von Brutalität. War es nicht ein Russe, der den Ausspruch that, ein Stück Käse sei mehr wert als Puschkin? ... Von allen fremden Schriftstellern ist der meist gelesene und am besten verstandene Zola, der unter den Russen mehr Bewunderer zählt als in seinem eignen Vaterlande.
Die Natur Nußlands beeinflußt, wie unsre Schrift ferner zeigt, nicht allein das Temperament durch Klima, Diät und Körperbeschaffenheit, den Charakter durch die Not, die sie auferlegt, und durch die Kräfte, die sie anregt, sie wirkt nicht minder mächtig auf die ganze Seele durch die Anblicke und Bilder, die sie darbietet.
Einer der ersten Eindrücke, die der Reisende empfängt, ist ein Gefühl der Schivermut. Diese Schwermut ergießt sich vom Himmel und aus der Luft, die nordischen Völker sind alle mehr oder minder von ihr ergriffen, in Rußland aber entsteigt sie zugleich dem flachen uud einförmigen Boden. Der Südrusse ist ihr nicht weniger unterworfen als der Nordrusse. . . . In der Poesie und Musik des Volkes, in diesen Weisen mit dem langsamen Rhythmus uud der Molltonart bricht die Melancholie des Bodens und Klimas am deutlichste» hervor. . . . Ein Ton süßer Schwermut färbt in ihnen den realistischen Untergrund des Vvlkscharcckters mit elegischen Nüancen; in der Literatur uud Kunstpoesie nimmt diese Melancholie einen scharfen und bittern Geschmack au. Bon Lermontow und Puschkin bis zu Nekrassow und Turgenjew ist die Dichtung aller Schulen mit ihr getränkt, man erkennt sie auch im Leben dieser Poeteu, die meist jung und auf tragische Weise geeudet haben. „Schwermut, Skeptizismus und Ironie sind die drei Saiten der russischen Literatur," schrieb einst Herzen, der sich selbst als Beispiel hätte anführen können. . . . Diese Art Melancholie, die Boden und Klima erzeugt uud das politische Regime genährt hat, zieht bisweilen die russische Seele zu einem Mystizismus hin, der über die realistische» Antriebe die Oberhand behält oder sich mit ihnen auf bizarre Weise verschmilzt, wie dies mehr als eine Volkssekte, mehr als ein nationaler Bolksschriftsteller, z. B. Schukowski, Gogol und Dostojewski, bezeugen. Zwischen