114
Lin Franzose über Rußland und die Russen.
andre Nationalität mittelbar und unmittelbar soviel für die geistige Bildung und den materiellen Fortschritt der Russen uach jeder Richtung hin geleistet. Lcroh-Beaulieu nimmt davon wenig Notiz. Während er den Einfluß, den die Junghegelei auf das Entstehen der Nihilisten geübt hat, zu stark betont, indem die französischen Sozialisten an dieser Verirrung der russischen Jugend ohne Zweifel mehr schuld haben als die deutsche Philosophie, geschieht der Deutscheu in der Petersburger Akademie und an den Universitäten des Reiches und ihrer ausgedehnten Thätigkeit an den Gymnasien, ihrer Leitung von Werkstätten, Fabriken nnd Landwirtschaften und ihrer Beteiligung am russische» Handel nur kurz und ungenügend Erwähnnng. Das deutsche Element in Nußland hätte aber noch eines andern Umstandes wegen ausführlicher und gründlicher besprochen werden müssen. Das Zentrum desselben, die baltischen Provinzen, ist noch in unsern Tagen die ununterbrochen fließende Quelle einer Kultur, die sich in allen Formen nach dem Innern des Reiches ergießt und dort zwar langsam befruchtet, auch nicht selten versiegt, im ganzen aber doch nicht wenig Segen verbreitet und sehr stark auf Verbesserung des urtümlichen Elements eingewirkthat. Diese Vermittlung europäischen Wissens und Denkens erscheint vornehm und überlegen, sie verfährt bisweilen schulmeisterlich, barsch und rücksichtlos, ihre Träger wissen dabei mitunter mehr als billig ihren materiellen Vorteil wahrzunehmen, nnd so ist sie der großen Menge ein Gegenstand des Verdrusses nnd Neides, man fühlt sich gedemütigt und ausgebeutet, namentlich aber hassen sie die Slavophilcn, die von einer rein nationalen Entwicklung träumen, welche in Wahrheit der ärgste, traurigste Rückschritt sein würde. Der Verfasser unsrer Schrift unterläßt es natürlich nicht, auf diese Antipathie der Russen gegen die Deutschen hinzuweisen, aber eine Ergänzung seiner Ausführungen, eine ehrliche Erklärung der Erscheinungen, von denen er berichtet, suchen wir bei ihm vergebens. Wäre er hier tiefer in das Wesen der Dinge eingedrungen, hätte er sich nicht zu sehr auf seine russische» Mitarbeiter verlassen, so würde er gefunden haben, daß die Oftsecprovinzen gerade die Ideen vertreten und die Vorzüge besitzen, welche er im übrigen Nußland vermißt. Sie sind es z. B., welche eine Aristokratie haben, deren Nicbtvorhcmdensein in Nußland von unserm Buche als Grund vieler Mißstände in der dortigen Entwicklung bezeichnet wird, und die in ihrer Geschlossenheit wiederholt der absolutistischen Willkür eine Schranke, der Negieruugsgewalt eine Stütze und der allgemeinen Ordnung eine Grundlage gewesen ist. Der Verfasser nennt ferner als einen verhängnisvollen Mangel die Bedeutungslosigkeit der Städte in Rußland, diese ist aber in den baltischen Provinzen nicht vorhanden: das städtische Element ist hier mindestens dreimal so stark als im übrigen Rußland, nnd die größern Städte sind in wirtschaftlicher, intellektueller und selbst politischer Beziehung sehr wichtige Faktoren, sie besitzen eine wohlgeübte und kräftige Selbstverwaltung, einen angesehenen, seit Generationen wvhl- akkrcditirten Kaufmannsstcmd, selbstbewußte Handwerker, eine idealen Zwecken