Gin Franzose über Rußland und die Russen.
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geliefert worden ist. Unkenntnis des Auslandes war bis vor kurzem ein Charaktermerkmal unsrer Nachbarn jenseits der Vogesen, und die Abgeschmacktheiten, welche Tissots Berichte über Deutschland und ähnliche bald aus dem Vergröße- rungs-, bald aus dem Verkleinerungsspiegel abgezeichnete, oft ganz erlogene Sammluugcn von Grimassen nnd Karikatnren in die Welt setzten, konnten diesen Fehler nur verschlimmern. Indes wurde zuweilen auch besseres geleistet, und das Buch, das wir hier anzeigen, gehört, abgesehen von einigen nicht sehr wichtigen Stellen, wo der Patriot den Beobachter und Beurteiler irreführt oder nicht sehen läßt, und einigen Widersprüchen und Unklarheiten, entschieden zu diesen bessern Leistungen, ja es ist wohl, soweit es vorliegt, das beste literarische Gemälde der russischen Zustände, welches die letzten drei Jahrzehnte dem Publikum des westlichen Europas vor die Augen gestellt haben. Wir meinen das Werk Leroy- Beaulieus: Ii'snixiro ckss Lsars st Iss Russos, dessen erster Band in deutscher Übersetzung von L. Pezold (Berlin, A. Deubner) erschienen ist. Der Verfasser, einer der Mitarbeiter an der L.s?uö äss vvux Nonäss, ist ein Mann von gründlicher wissenschaftlicher Bildung, der es mit seiner Anfgabe ernst genommen hat. Seine Schrift ist die Frucht langjähriger Arbeit, bei der er seine Vorgänger, auch die deutschen, fleißig und mit kritischem Blicke benutzt hat, und eines viermaligen Aufenthaltes in Rußland, während dessen er in den Jahren 1872 bis 1880 an den verschiedensten Orten und in allen Kreisen des von ihm ins Auge gefaßten Gebietes studircn, sammeln und vergleichen konnte. Er hat sich ferner reger und wertvoller Unterstützung durch schriftliche Beiträge sachkundiger Russen erfreut, und er trägt, was er zu sagen hat, in schöner, klarer Sprache vor, welche der Übersetzer gewandt wiederzugeben verstanden hat. Wenn er trotz aller Gewissenhaftigkeit Franzose bleibt und als solcher dem russischen Volke eine starke Vorliebe entgegenbringt, mit der er dann die unerfreulichen Seiten an dessen Wesen zu sehr entschuldigen und nur ans der Natur des Landes und der geschichtlich ungünstig gewesenen Lage der Nation zu erklären bemüht ist, so ist er andrerseits frei von nationaler Überhebnng, und etwas zuviel Sympathie führt den Forscher, wenn bei ihm sonst alles im Kopfe gehörig in Ordnung ist, immer der Wahrheit näher, als Eingenommen» heit gegen den Gegenstand seiner Untersuchung.
Störender hat die nationale Befangenheit auf den Verfasser bei seiner Beurteilung des deutschen Elements in Rußland gewirkt. Zwar billigt er das Vorgehen der Russifikatoren gegen dasselbe nicht und empfiehlt Billigkeit und Milde. Aber die Bedeutung der Deutschrusscn ist von ihm nicht hinreichend anerkannt und hervorgehoben worden. Peter der Große reformirte vorwiegend nach deutschem Muster und vielfach mit Hilfe von Deutschen, eine lange Zeit herrschten deutsche Einflüsse fast allein am Petersbnrgcr Hofe, immer bekleideten im Staatsdienste Nußlands, in dessen Verwaltung, Heer und Diplomatie Deutsche hohe Stellen und erwarben sich hervorragende Verdienste, endlich hat kaum eine Grcnzbvten III. 1884. 15