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Notizen.
die raffaclischen Schönheitslinien ohne eignes, angebörnes Schönheitsgefühl; daher die michelaugelesken Posen und Muskclanschwellungen ohne Anlaß zu den körperlichen und seelischen Bewegungsmotiven, denen sie entsprachen; daher das Spiel mit dem Helldunkel Corrcggios ohne dessen zauberduftige Geistesstimmnng. Überall fehlt die Frische; überall merken wir die Absicht; überall werden wir an längst bekannte ältere Kunstwerke erinnert; und trotz der warmen Färbung, die wenigstens einige der Manieriften erstreben, ist ihr Gesamteindruck kalt und langweilig; trotz ihrer sorgfältigen Kompositivnsstudicn erscheint ihre Anordnung schablonenhaft und konventionell; trotz ihres bewußten Strebens nach Ausdruck haftet ihnen eine erschreckende geistige Leere an. Sie verfügen über eine bedeutende malerische Technik und über eine große Leichtigkeit der Hand; aber ihren historischen Kompositionen läßt sich in der Regel doch alles andre eher nachrühmen als malerischer Reiz. Nur wo sie gezwungen sind, sich einfach an die Natur zu halten, wie im Bildnisfache, tritt ihre bedeutende Auffassungsgabe und ihre glänzende Technik unverfälscht zutage; und gerade ihre Bildnisse zeigen uns, daß manche von ihnen von Haus aus begabter sind als viele der frühern, aufstrebenden Meister, denen sie in unsrer Wertschätzung nur deshalb nachstehen, weil der Fluch des Epigonentums, der auf ihnen lastete, ihnen keine selbständige, freiere Regung gestattete."
Diese Darlegung bildet einen Teil der einleitenden Betrachtungen, mit denen der Verfasser den dritten Band seines Werkes, „Die Malerei der neueren Zeit," eröffnet und die auf die Schilderung der Nachahmer und Manieriften, wofür — mit Ausnahme der großen venetianischen Meister (Tintoretto und Paolo Vcronese) — selbst die Italiener aus der Mitte und dem Ende des sechzehnten Jahrhunderts gelten müssen, vorbereiten. Die vorliegende erste Lieferung dieses Bandes behandelt zunächst die italienische, darauf die spanische, endlich die niederländische Malerei des angegebenen Zeitraumes. Von dem vierten Abschnitt: „Die Malerei der zweiten Hälfte des sechzehnten Jahrhunderts in den übrigen Ländern" enthält das Heft noch den Anfang.
Auch diese Lieferung zeigt wieder die erstaunliche Bilderkenntnis, die sich der Verfasser auf seinen Reisen nach allen größern Museen der Erde erworben hat, in Verbindung mit einer umfassenden Literatnrkenntnis. Sein Buch ist freilich, wie man's nehmen will, entweder weniger oder mehr als eine Geschichte der Malerei; weniger, insofern die großen, entscheidenden Strömungen in der Knnst und ihr Zusammenhang mit dein übrigen Geistesleben der Völker natürlich nicht fehlen, aber doch vor der Masse der kleinen und kleinsten Ncbenläufe fast dem Auge entschwinde«; mehr, insofern die Darstellung fast eure Art von Repertorium der Geschichte der Malerei bildet, Künstlerlexikou und Kunsttvpvgraphie zugleich. Eigentliche Leser wird das Buch daher auch weniger finden, als dankbare Benutzer; es ist kein Lesebuch, es ist ein Nachschlagewerk. Daß der Verfasser es selbst mehr in diesem Sinne aufgefaßt wissen will, zeigen die zahllosen Randtitel des Textes, die dem Buche typographisch nicht gerade zur Zierde gereicheu, die Benutzung aber in dem angedeuteten Sinne sicherlich erleichtern werden. Die Verlagshandlung hat auch dieses Heft wieder mit einer großen Anzahl charakteristischer Illustrationen geschmückt, und zwar nicht bloß mit Proben ihres reichen, durch die „Kuusthistorischeu Bilder- bogcu" weltbekannt gewordnen Vorrates, sondern zum guten Teil auch durch neue, besonders für das Werk angefertigte Holzschnitte.
Für die Redaktion verantwortlich: Johannes Grunow in Leipzig. Verlag von F. L. Hervig in Leipzig. — Druck von Carl Marquart in Reudnitz-Leipzig,