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Zur Grundsteinlegung des Reichstagsgebäudes.
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der einzelnen Fraktionsherrschaftcn, unterwühlt von Kommune lind Anarchie, Italien fehlt zu einem gesicherten Rechtszustande die Autorität eines starken Re­giments, Österreich kommt vor den Eifersüchteleien und Feindseligkeiten seiner verschiednen Volker nicht zur Ruhe, in den Vereinigten Staaten von Amerika dcmoralisiren die jedesmaligen politischen Sieger durch eine rücksichtslose Aus­beutung der Besiegten Staatswesen und Volk. Nur das deutsche Reich zeigt nach innen und außen feste Stetigkeit und eine ruhige Entwicklung. Nirgends ist der Bürger in seiner freien Bewegung weniger gehemmt, nirgends herrscht ein solches Vertrauen zu Gericht und Verwaltung; die Freiheit der Rede nnd Presse ist gesichert, ohne daß der friedliche Bürger dem Nevolvertnm eines Miß- brauchcs ungestraft ausgesetzt wäre. Alles dies sind Errungenschaften und Güter, die von keiner Seite streitig gemacht werden.

Aber freilich, das liberale Philistertum zeigt sich nicht ganz befriedigt. Eben weil es in seiner Existenz in keiner Weise bedroht ist, weil durch segens­reiche Institutionen und dnrch eine antoritative Regierung ihm jede Sicherheit verbürgt ist, folgt es den Maulhelden der Gasse und findet ein Vergnügen daran, die Maßregeln der Regierung zu bekritteln nnd zu verkleinern. Es strebt nach der Herrschaft und glaubt in dem parlamentarischen Vollregiment das Ideal der Freiheit verwirklicht zu sehen, wo die Helden des Wortes die Männer der That unterdrücken. In diesen billigen Bestrebungen ist der Liberalismus blind gegen alles, was ringsumher geschieht. Er hat kein Verständnis dafür, daß seit 1789 und 1348 eine neue wirtschaftliche Entwicklung und eine Ver­schiebung der Besitzverhültnisse eingetreten ist, daß sich zu den bekannten drei Ständen noch ein vierter Stand gesellt hat, und daß die sogenannten Ent­erbten der Gesellschaft auch ihren Anteil an den Gütern begehren, die ohne ihre Mitwirkung garnicht erzeugt werden können. Der Liberalismus lebt von der Gegenwart, er denkt nicht an den kommenden Tag und glaubt, in der allein­seligmachenden Lehre des Manchestertums befangen, daß sich die Gegensätze schon von selbst ausgleichen werden. Er hat das Höchste in dem Dynamitgcsetz ge­than und glaubt, weil er sich zur Zeit, von der Polizei geschützt, ruhig schlafen legen kann, daß damit die Ruhe der Welt gesichert sei.

Wenn Kaiser Wilhelm und sein großer Kanzler ebenso dächten, dann würden wir freilich die Grundsteinlegung des neuen Reichstagsgebändes in eitlem Freuden­rausch begehen können. Für die wenigen Jahre, die beiden nach der Natur der Dinge noch beschieden sind, würde gewiß der bestehende Zustand noch ausreichen. Sie haben der Lorbern genug gepflückt, um auf ihnen mit Fug und Recht cms- ruhcn zu können. Aber beide sind nicht nur Männer der Gegenwart, sondern auch der Zukunst; sie haben nicht allein das deutsche Reich begründet, sie wollen es auch befestigen und wollen die Gegensätze ausgleichen, welche die wirtschaft­liche Entwicklung mit ihren ungleichen Besitzverhältnissen mit sich bringt. Sie haben eingesehen, daß das Ig-isssr lÄirs zu einer Unterdrückung der Schwächern