Das Deutsche Theater in Berlin.
553
gemütvolleren Kunstkreisen deutscher Mittelstädte ein üppiges, aber auch dort schnell verblühendes Dasein geführt hatte. In dem herzlosen Berlin rufen Theaterbroschüren keine tiefe Erregung hervor. Das Berliner Publikum steht in seiner großen Mehrheit auf dem Boden einer praktischen Ästhetik. Es glaubt, daß die gegenwärtige Theatermisere nicht auf theoretischem Wege durch Broschüre» mit Verbesserungsvorschlägen beseitigt werden könne, sondern nur durch gute Stücke, durch gute Schauspieler und durch gute Theaterdirektoren. Da an allen dreien zur Zeit schwerer Mangel ist, faßt man sich ruhig in Geduld. Mau legt sich im Theaterbesuch die größte Zurückhaltung auf und riskirt nur das Eintrittsgeld bei Stücken, welche in der öffentlichen Meinung so sicher fundirt sind wie der „Bettelstudent" von Millöcker und der „Probepfeil" von Oskar Blumenthal.
Als im Jahre 1876 die Frage der Reform des deutschen Theaters in Berlin aufs Tapet kam, erschien eine Reihe von Broschüren mit gutgemeinten und wohldurchoachteu Ratschlägen, welche teils auf die Errichtung einer Theciter- alademic von Staatswegen, teils auf die Gründung einer Musterbühne hinausliefen. Die meisten Zeitungen nahmen sich dieser Bewegung mit mehr oder minder warmer Teilnahme an; aber sie ist völlig rcsultatlos geblieben, und die alten Verhältnisse, welche als haltlos und unerträglich bezeichnet wurden, haben sich nicht um ein Haar geändert. Die besonneneren Kritiker, welche sich damals der Reformfrage gegenüber kühl verhielten, haben also Recht behalten, und in der Tagespresse ist die Diskussion über dieselbe denn auch verstummt. Damit können sich aber idealistisch angelegte Gemüter durchaus uicht zufriedengeben. Ab und zn taucht ein junger Schriftsteller auf, der es schlechterdings nicht begreifen kanu, daß die erfahrenen Theaterkritiker ihre Hand von diesem Wespennest lassen, und der sich mutig in die Gefahr begiebt, weil er nichts zu verlieren hat, nicht einmal einen Namen, wenn er sich lächerlich macht.
Im vorigen Jahre war es ein Herr Paul Schlenther, welcher in einer Broschüre Sturm gegeu das königliche Schauspielhaus lief und wie Jeremias auf den Trümmern von Jerusalem über den Ruin der Schauspielkunst Wehe rief, mit der tröstlichen Perspektive auf das „Deutsche Theater," in diesem Jahre ist es ein Herr Conrad Alberti, welcher in einem kritischen Resümee über die bisherige Thätigkeit des „Deutschen Theaters" ein gleiches Klagelied anstimmt nnd am Ende wieder die Sonne der Gnade über dem königlichen Schauspielhause aufgehen läßt. Im vorigen Jahre haben sich „Herr von Hülsen und seine Leute" über die Augriffe des Herrn Schlenther mit einigen Scherzworten hinweggesetzt, in diesem Jahre thut Herr L'Arronge ein gleiches, znmal da er in der angenehmen Lage ist, daß der größte Teil der Berliner Presse mit ihm durch Dick und Dünn geht und alle Leistungen seiner Bühne „großartig" findet, während Herr von Hülscu umgekehrt die Parteigänger des „Deutschen Theaters" z» Gegnern hat. Der letztere befand sich auch insofern noch im Nachteile, als
Grmzbotm II. 1884. 70