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Goethes naturwissenschaftliche Schriften.
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Goethes naturwissenschaftliche Schriften.

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So lebhaft wir indessen das große Verdienst Steiners anerkennen, Goethes Standpunkt hoch über das Niveau der gewöhnlichen philisterhaften Angriffe emporgehoben zu haben, so dürfen wir doch nicht unterlassen, in einem Punkte seiner Einleitung ihm entgegenzutreten. Das Verhältnis Goethes zu Spinoza und zu Kant scheint uns nicht völlig richtig dargestellt zu sein.

Der Spinozismus erklärt bekanntlich das Weltganze für einen Inbegriff vieler, einer einigen, einfachen Substanz inhärirenden Bestimmungen, wobei die innere Zweckmäßigkeit, die uns in allen organisirten Körpern entgegentritt, garnicht weiter begreiflich gemacht wird. Die Bedingung aller Zweckmäßigkeit ist allerdings die Einheit des Grundes, und diese behauptet Spinoza; aber über das Verhältnis dieses einheitlichen Weltgrundes zu dem Zwecke, der in den Organismen verwirklicht ist, darüber fehlt es seinem System an jeder Erklärung, und es kann auch auf diesem Wege gar keine Erklärung geben, wenn man nicht diese Substanz was eben Spinoza nicht wollte als denkenden Verstand, d. h. als einen zweckthätig wirkenden, gleichsam architek­tonischen Verstand vorstellen will. Ein solcher Verstand würde, wie Kant auseinandersetzt, wieder ein andrer sein müssen als der menschliche, denn dieser ist diskursiv und geht immer von Einzelheiten aufsteigend zum allgemeinen, während der architektonische Verstand von der Einheit aus die Mannich- faltigkeit der Erscheinung begreifen würde. So hatte Kant geleugnet, daß der Spinozismus -ein Erkenntnisprinzip für die Naturwissenschaften enthalte, er leugnet überhaupt, daß der menschliche Verstand die nach einem Ziele strebende zweckmäßig wirkende Lebenskraft in den organischen Körpern je würde begreifen können. Er sagt: wir müssen jeden Organismus freilich so beurteilen, als wenn ein einheitlicher Plan, in welchem sich alle Glieder und Teile der Idee des Ganzen unterordnen, in ihm verwirklicht wäre, aber das Wesen dieses Planes und der Kraft, welche ihn hervorbringt, werden wir nie erkennen, denn diese werden aus der Anordnung der Einzelheiten, die wir sehen, nur erschlossen, aber sie sind nicht selbst in der Anschauung gegeben; sie sind nur von uns gedacht, nicht wahrgenommen, und da unser Verstand so eingerichtet ist, daß wir nur das erkennen können, was in der Anschauung gegeben wird, so bleibt uns das eigentliche Prinzip des Lebens stets verschlossen. Wahrhaft erkennen können wir nur das, was wir selbst machen oder mindestens bis auf die letzten Ursachen seiner Entstehung verfolgen können. Darum können wir alles mechanische Ge­schehen auch in den Körpern der lebenden Wesen sehr wohl begreifen, aber niemals können wir sie willkürlich nachmachen, weil uns der Hauptfaktor, die eigentliche, den Plan des Ganzen bestimmende Lebenskraft unbegreiflich ist und bleibt. Wenn man eine Entwicklung aller Formen der organischen Wesen von den übriggebliebenen Spuren der ältesten Erdrevolutionen an bis auf die Zeiten, wo die Artenbildung weniger schwankend und mehr stabil geworden war, annehmen will, so steht dies nach Kant dem Archäologen der Natur frei, ohne