546
Goethes naturwissenschaftliche Schriften.
käme man zu dem Satze: „Die Blütenteile sind seitliche Anhänge der Pflanzenachse"; um das aber zu sehen, habe nicht erst Goethe zu kommen brauchen. Noch entschiedener spricht Helmholtz den optischen und chromatischen Studien Goethes jede wissenschaftliche Bedeutung ab, höchstens für das Studium subjektiver Lichterscheinungen läßt er ihm Gerechtigkeit widerfahren.
Noch weiter hat Dubois-Reymond diese Hinausweisung Goethes aus der Naturwissenschaft in seiner berüchtigten Nektoratsrede getrieben; er hat ihm geradezu die Fähigkeit abgesprochen, den Begriff mechanischer Kausalität zu fassen, d. h. genau genommen, er hat ihm die geistige Gesundheit abgesprochen, denn ohne Anwendung des Stammbegriffs der Kausalität ist gar kein normales Denken möglich. Wir haben schon früher einmal in diesen Blättern uns mit diesem merkwürdigen Berliner Produkt befaßt.
Diesen Urteilen stehen nun freilich auch andre gegenüber. Virchow erkennt das Streben Goethes, in der organischen Welt nach einheitlichen Ideen und Typen zu suchen, an, und hält sogar sein eignes Bestreben, in der Zelle den reinsten Ausdruck organischer Einheit zu finden, für nahe verwandt mit Goethes Richtung. Häckel zitirt Goethe sogar bestündig als Autorität für seine Weiterbildung des Darwinismus und behauptet mit unbegreiflicher Verblendung, daß Goethe seinem Vorschlage zugestimmt haben würde, den Mechanismus der Materie als die einzige Ursache für die Bildung organischer Formen anzusehen.
Bei diesem durchaus unklaren Zustande des Problems, welche Bedeutung Goethe in den Naturwissenschaften zukomme, ist es ein höchst dankenswertes Unternehmen Rudolf Steiners, eine zusammenhängende Ausgabe sämtlicher naturwissenschaftlichen Schriften Goethes zu veranstalten. Der erste Band derselben ist soeben als siebenundzwanzigster Band der „Deutschen National- literatur" (Stuttgart und Berlin, Spemcmn) erschienen und ist von einem vortrefflichen Vorworte K. I. Schröers, sowie eiuer eingehenden Einleitung von Steiner selbst begleitet. Wir begrüßen dieses Unternehmen umso freudiger, da wir in Goethes Studien die ewig frischsprudelnde Quelle finden, aus der diejenige Richtung in der Naturwissenschaft schöpfen muß, die dem modernen Materialismus entgegengesetzt ist.
Mit vollem Rechte hebt Steiner ebenso wie Schröer hervor, daß bei Goethe von einem wissenschaftlichen Dilettantismus garnicht die Rede sein, und daß man seine wissenschaftlichen Arbeiten nur unter dem Gesichtspunkt würdigen könne, daß sie das Produkt desselben Genius seien wie seine Dichtungen. Nur im Zusammenhange mit der ganzen Entwicklung seines Denkens und Dichtens ist seine Stellung zur Wissenschaft zu verstehen. Nicht die einzelnen Entdeckungen, die mit seinem Namen verknüpft sind, bilden sein gewichtigstes Verdienst, sondern die großartige, alle Einzelheiten zusammenfassende und von einem Zentralpnnkt aus betrachtende Anschauungsweise.