Zur Reform des Gymnasiums.
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ließe. Geschweige daß auch nur einer in irgend einem Fache des realen Wissens und Könnens gründlich bewandert wäre, ja daß auch nur einer selbst in den alten Sprachen sich in Wort und Schrift so leicht und gewandt auszudrücken vermöchte wie die Schriftsteller und Redner der Reformationszeit, nein, auch wie ein F. A. Wolf, G. Hermann, Köchly und — Schliemann.
Durch den zuletzt erwähnten Namen lassen wir uns noch deutlicher sagen, was man positiv zu thun hat, um in kurzer Zeit alte und neue Sprachen zu lernen, und zwar so, daß man mit vollem Verständnis Prosaiker und Dichter lesen, ja die gelernten Sprachen auch schreiben und sprechen kann. Im Hinblick auf Schliemann, der aber keineswegs alleinsteht und als besondres Sprachgenie zu betrachten ist, läßt sich als entschiedene Thatsache behaupten: Wer in reifern Jahren, mit einem festen Zweck im Auge und fähig, Inhalt und Form von Gelesenem mit Interesse und Verstand sich anzueignen, die erforderliche Energie, Konzentration, Beharrlichkeit und tägliche Übung mehrerer Stunden aufwendet, um eine fremde Sprache, alte oder neue, zu erlernen, vermag das vorhin bezeichnete Ziel in höchstens zwei Jahren zu erreichen.
Einen unwiderlegbaren Beweis dafür liefern außer vielen Hunderten, die, sei es für einen gelehrten oder einen praktischen Beruf, sich erst im Mannesalter in kürzester Frist ungewöhnliche Sprachkenntnisse erworben haben, gerade in neuerer Zeit die Erfahrungen, welche strebsame junge Leute, ohne für Spracherlernung besonders begabt zu sein, glaubwürdig versichern mit den Toussaint- Langenscheidtschcn Unterrichtsbriefen gemacht zu haben.
Man meine jedoch nicht, solches lasse sich nur erzielen, wenn man zwanzig oder vierzig Jahre alt sei. Die ebengenannten Bedingungen, Befähigung, Interesse, Energie, Beharrlichkeit und konzentrirte Übung vorausgesetzt, ist annähernd dasselbe Ziel auch bei Knaben und Mädchen von zehn und elf Jahren zu erreichen. Immerhin mag in der Art und Weise und in dem Umfange, wie es Goethe von sich berichtet, nicht vielen gelingen, drei bis vier fremde Sprachen im Knabenalter sich anzueignen. Eher kann man einen allgemeinern und nachahmenswerten Maßstab einem Beispiele aus älterer Zeit entnehmen. Montaigne (geboren 1533) erzählt, wie ihm sein Vater Latein lehren ließ mit dem Erfolge, daß er mit sieben Jahren fast alle lateinischen und griechischen Schriftsteller (letztere in lateinischer Übersetzung) gelesen hatte und mit dreizehn Jahren für die Universität reif war. Ein gelehrter Deutscher, der noch kein Wort französisch konnte, war ins Haus genommen worden und mußte, wie selbst die Dienstboten, mit dem Jungen solange nur lateinisch reden, bis ihm Latein zur Muttersprache wurde.
Doch das schwerste Gewicht legt wiederum eine thatsächliche Erfahrung in die Wagschale. In einem nahezu fünfzigjährigen Lehramt ist mir selbst und nach fremden Mitteilungeil auch andern mehr als einmal begegnet, daß Schüler, welche erst im elften oder gar zwölften Jahre anfingen, Latein und Griechisch
Grmzboten II. 1884. 3