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Die parlamentarischen Fraktionen.
finden sich wohl in allen Fraktionen auch solche, die, wenn sie auch nicht das Talent oder nicht den Ehrgeiz besitzen, als Führer sich aufzuspielen, doch nicht auf jedes selbständige Denken verzichtet haben, und welche deshalb nicht unbedingt von den Führern sich imponiren lassen. Hier gilt es nun, eine Art Fraktionsdisziplin zu üben, welche auch diese disparaten Elemente zusammenhält. Deshalb wird in den Fraktionsversammlnngen nicht bloß diskutirt, soudern es wird auch am Schluß der Diskussion ein „Fraktivnsbeschluß" gefaßt, welcher den „Willen der Fraktion" zum Ausdruck bringt. Allerdings gilt nicht jeder dieser Fraktionsbeschlüsse für absolut bindend. Nur in einzelnen Fällen pflegt ausgemacht zu werden, daß jedes Fraktionsmitglied bei seiner Abstimmung im Plenum sich dem Fraktionsbcschlusse zu unterwerfen habe. Indessen auch bei den nicht bindenden Beschlüssen Pflegt doch gegen die Abfallenden eine gewisse Disziplin geübt zu werden, wenn diese auch bei den verschiednen Fraktionen nicht in gleichem Maße ausgebildet sein mag. Die geschlossene Art und Weise, wie z. B. Zentrum und Fortschrittspartei meistens bisher gestimmt haben, deutet darauf hin, daß bei ihnen die Fraktionsdisziplin sehr stark gehandhabt worden ist. Die geringste Zensur ist das stille Mißfallen der Fraktion, welches bei dieser oder jener Gelegenheit sich kundgiebt. Dann kommt es auch wohl zu lauten tadelnden Bemerkungen, wenn auch diese öfters nur von untergeordneten Größen ausgehen, welche bemüht sind, bei deu Führern der Fraktion das „liebe Kind" zu spielen. Denn auch solche Persönlichkeiten giebt es in den Fraktionen, und sie werden dann für ihre „Fraktionstreue" bei dieser oder jener Gelegenheit durch eine kleine Auszeichnung belohnt. Ist aber einer der Fraktionsgenossen der Führerschaft ernstlich in die Quere gekommen, dann kommt es mitunter zu erschütternden Szenen, bei welchen vielleicht ein hochachtbarer Mann in einer für ein unbefangenes sittliches Gefühl tief verletzenden Weise mißhandelt wird. Nach außen hin pflegt ein solcher Vorgang meist nur durch den Austritt des Betroffenen aus der Fraktion sich kundzugeben.
Man wird mm vielleicht fragen, weshalb denn bei diesen oft nichts weniger als anmutigen Verhältnissen des innern Fraktivnslcbens gleichwohl fast alle Parlamentarier sich irgend einer Fraktion anschließen? Der Gründ dafür liegt darin, daß die Fraktionen das ganze parlamentarische Leben beherrschen. Sie haben große Ähnlichkeit mit den Korpsverbinduugen der Studenten; und nichr ohne Grnnd hat man — nach einem treffenden Witz von Windthorst — den Znsammentritt der Fraktivnsvorstände „den Seniorenkonvent" genannt. Namentlich werden auch alle für die Vorberatung der Gesetze bestimmten Kommissionen von den Fraktionen, natürlich nur mit Fraktionsmitgliedern, besetzt; und wer daher nicht ganz darauf verzichten will, innerhalb dieser oder jener Kommission seine Kräfte zu verwerten, ist genötigt, einer Fraktion beizutreten. Der „Wilde" im Parlament ist ein fast Verlorner Mann,