Neue Gedichte.
Mich unlöblichem Brauch folgend überschwemmt der deutsche Buchhandel in diesem wie in jedem früheren Jahre den Weihnachtsmarkt mit Sammlnngen lyrischer Gedichte, von denen angenommen wird, daß sie nm die Festzeit, in festlichem Gewände auftretend, Häuser und Herzen offener finden werden als das ganze Jahr hindurch. Unter den Herzen aber, die sich erschließen sollen, stehen die der Herreu Kritiker voran. Es ist hergebracht, daß die modernen Fcuilleton-Rhadamanteu, welche elf Monate hindurch mir die kühlste Geringschätzung lyrischer Unmündigkeit znr Schau tragen, im Dezember ihre Gemüter erweichen und mit ein paar lobenden Phrasen alles, was ihnen in Goldschnitt, elegant gebunden, gereimt und auch ungereimt auf den Schreibtisch geworfen wird, den Börsen der Weihnachtskäufer und den laulich-empfänglichen Stimmungen des zweiten und dritten Festtages empfehlen. Es liegt eine unbegrenzte Gleichgiltigkeit in diesem Weihnachtsberichtton, der Wahl- und kritiklos Vorzügliches und schlechthin Abgeschmacktes bunt durcheinander empfiehlt und den Einbänden von vornherein größeres Gewicht einräumt als dem Inhalt, was freilich oft genug zutreffen mag. Die Grenzboten haben sich zu wiederholtenmalen gegen diese Unsitte erklärt, welche der Produktion und Kritik gleich schädlich ist. Es giebt keine Stunde im Jahre, zu der schlechte Gedichte erquicklicher wären als zu jeder Zeit. Und andrerseits geben die äußersten Greuel des lyrischen Dilettantismus der Kritik keiu Recht, sich die Prüfung der lyrischen Dichtung, deren die poetische Literatur unter allen Umständen nicht entrateu kaun, vornehm zu schenken. Bellmans in Freytags „Journalisten" und Frau Pastor Jäger in SpielhagcuS „Problematischen Naturen," die vielbelachte Verfasserin des Liedes „Ans einen toten Maulwurf," sind ja recht ergötzliche Figuren, aber die Annahme, daß alle Lyriker Bellmans und Frau Pastor Jäger glichen, ist auch einer jener nngehcucrn Bären, welche sich die verehrliche „öffentliche Meinung" mit besonderin Wohlgefallen aufbinden läßt.
Unsre Weihnachtsschau auf dem Felde der Lyrik umfaßt alles, was sich iu den letzten Monaten angesammelt hat; wir beschränken uns darauf, den immerhin subjektiven Eindruck wiederzugeben, welchen die verschiedenen lyrischen Sammlungen und lyrisch-epischen Dichtungen hervorgerufen haben. Der Leser, der für Weihnachtszwecke den kritischen Bericht über die neueste deutsche Lyrik durchfliegt, wird dann schon wissen, was sich für ihn am besten eignet.
Eine lyrische Gabe befindet sich unter den vielen vorliegenden^), die
*) Zwei der hier zur Besprechung kommenden Sammlungen sind vor kurzem schon von andern Seiten in den Grcnzboteu empfohlen worden.' die Gedichte von M. Carriere und von I. G. Fischer.