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Politische Wetterfahnen.
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Politische Wetterfahnen.

Billigdenkendc zugeben muß, daß die Franzosen im allgemeinen in der Zeit von 1790 bis 1815 sich in der Lage der öffentlichen Beamten eines Landes befanden, welches von Feinden okknpirt ist. Der Einzelne konnte es nicht ändern, daß Gewaltthat auf Gewaltthat folgte, die Gewalt selbst aus einer Hand in die andre ging und die Regicrnngsformen wie Kleidermodcn einander folgten. Zudem läßt der anonyme Verfasser nicht gelten, daß die Erfahrung auf das politische Glaubensbekenntnis Einfluß nehmen dürfe, konsequenter hierin als unsre Radikalen, welche jeden in die Acht thun, der sich überzeugen läßt, daß die Monarchie bessere Garantie bietet als die Republik, hingegen den preisen, welcher den entgegengesetzten Entwicklungsgang durchmacht.

Weshalb wir aber dem Buche soviel Aufmerksamkeit zugewandt haben, ist dies. Nicht leicht irgendwo wird eindringlicher gepredigt, welches Unglück es für die Franzosen ist, daß sie in der großen Revolution den Sinn für eine gesetzmüßige Grundlage der öffentlichen Zustände verloren haben. Als das Buch erschien, konnte man glauben, jene gesetzmäßige Grundlage wiedergewonnen zu haben. Der Monarch nahm den Thron kraft seines Erbrechtes ein, durch die Anerkennung organischer Einrichtungen, der Umwälzung in den Besitzver­hältnissen u. s. w. war eine Brücke über ein Vierteljahrhundert hinweg gebaut. Aber die Thatsache, daß der von Napoleon eingesetzte Senat es wagen konnte, diesen mit Bernfnng auf Akte, welche mit Zustimmung des Senats erfolgt waren, abzusetzen, daß der Senat die Soldaten und Beamten dieses Eides entband, paßte besser zu den aus der Revolution gewonnenen Vorstellungen; Frankreich, sagte Talleyrand, hatte Ludwig XVIII. gerufen, Frankreich konnte ihn oder seinen Nachfolger mich wieder fortschicken. Und wie fest diese Lehre sitzt, beweist die Geschichte des letzten halben Jahrhunderts. In allen Parteien lebt unverkennbar eine Ahnnng, daß endlich wieder eine Schutzwehr gegen den unbeständigen Willen derNation" oder derer, die sich zu ihren Wortführern aufwerfen, aufgebaut werden müsse; jede Partei stützt sich auf historisches Recht, da jede schon wenigstens einmal die Macht anerkanntermaßen besessen hat. Aber keine Partei gewinnt, wenn sie am Ruder ist, über sich, thatsächlich uud formell an den frühern Nechtszustcmd anzuknüpfen, eine Rechtskontinuität wieder zu begründen und sich einen bessern Titel zu verschaffen als den der Usurpation. Freilich macht jede neue Umwälzung das Werk schwieriger. Aber so lange nicht eine Regierung den Weg sucht und findet, das Recht, welches der Besitz ihr verleiht, in ein unanfechtbares, legales zu verwandeln, sich als Rechtsnach­folger ihrer Vorgänger zu legitimiren, so lange ist ein Ende der Umwälzungen nicht abzusehen.

Bekanntlich giebt es auch in Deutschland Leute, welche noch immer nicht begreifen, daß iu diesem Mangel des Rechtsbodens das Hauptunglück Frankreichs besteht, vielmehr gern Deutschland in ähnliche Bahnen führen möchten.