Das diesjährige Prachtwerk.
627
Mäntelchm erfaßt hat. Was ist das? Eine Szene aus dem grausigen Totentanzgedicht „Ich kam von meiner Herrin Haus," und zwar aus der Geschichte des „Fünften," der in dem geschilderten Totenchore „einen Strick um den Hals" erscheint; er hatte im Leben des Grafen Tochter entführen wollen, war dabei ergriffen und an den Galgen geschleppt worden. Diese Geschichte, die im Heineschen Gedicht einem Totcngespenst in den Mnnd gelegt wird, von dem sie der Dichter „in Wahnsinn und Mittcrnachtsgrans" ans dem Kirchhofe erzählen hört, wird hier von Thumann so gemütlich hingezeichnet wie eine Illustration zu einer Novelle. Weiter — Nummer fünf. Auf einem geflügelten Gaul, der mit derben Beinen durch die Luft abwärts rudert, reitet ein Jüngling in griechischem Kostüm, an den sich ein Mägdlein schmiegt, welches nicht mit ans dem Gaul sitzt, sondern von dem Reiter unter den Armen gefaßt wird und so an seiner Seite schwebt. Unten auf dem Erdboden sieht man Palmenbüschel. Was ist das? „Ans Flügeln des Gesanges, Herzlicbcheu, trag' ich dich fort" — also eine reine Phcmtasmagorie in die Wirklichkeit gerückt, ein duftiges sprachliches Gleichnis in einen stämmigen Pegasus verwandelt! So geht es weiter. Das sechste Bild zeigt „Ihn" und „Sie" in einem Nachen sitzend, in griechischen Gewändern. Sie lassen sich von Wind und Wellen treiben, er sitzt an den Mast gelehnt, sie hat ihr Köpfchen auf seine Schulter gelegt. Das ist: „Mein Liebchen, wir saßen beisammen"; in der Ferne sieht man „die Geisterinsel, die schöne." Auf den: siebenten Blatt sitzt „Er" auf einem Felsblock, an dem sich die Wellen des Meeres brechen. An seinem Halse hängt, mit ihren Armen ihn umschlingend und ihn auf den Mund küssend, eine junge, schlanke Meerfrau mit aufgelöstem Haar und langem, in den Wellen sich verlierendem Gewände. Das ist: „Der Abend kommt gezogen".
Ein etwas erfreulicheres Geschäft, als diese großen, leeren Bilder zu betrachten, ist es, die zahlreichen Bildchen und Vignetten zu mustern, die in Holzschnitten und saubern, von Holzschnitten kaum zu unterscheidenden Zinkdrucken durch den Text hin verstreut sind. Zwar wird auch hier in vielen Fällen deutlich, wie verfehlt der ganze Gedanke gewesen ist, dieses Liederbuch durch die große Jllustrirmühle unsrer Zeit gehen zu lassen — man sehe z. B. die Darstellungen zu den Liedern: „Lieb Liebchen, leg's Händchen aufs Herze mein" (Amor als Zimmermann, Nägel in ein Herz schlagend), „Die Lotosblume ängstigt sich" (ein Mädchen aus einer Lotosblume herauswachsend und sich entschleiernd), „Ich grolle nicht" (ein Weib auf Disteln liegend, dem die „Schlang' am Herzen frißt"), „Ein Fichtenbaum steht einsam" (ein Mann und eine Frau auf Passionsblumen einander gegenüberstehend, beide in sichtlicher Betrübnis, darunter ein Fichten- nnd ein Palmenzweig), „Du bist wie eine Blume" (zwei Engel einander gegenüber, mit Schild und feurigem Schwert eine Lilie schützend) u. a. Auch hier ist fast überall dem Beschauer ein Quidproquo vorgemacht: für das sprachliche Bild ist frischweg ein wirkliches Bild hingesetzt. Aber es finden sich