Lmile Zola.
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diejenige Lektüre für die beste hält, welche ihm am besten gefällt, und das; ihm diejenige am besten gefällt, welche seinem eigne» Denken am verwandtesten ist. Nun hat die Natur es aber so eingerichtet, daß in allen Dingen das mittlere Maß weitaus am meisten vorkommt. Sehr wenige Leute haben ganz kleine, sehr wenige Lcnte ganz große Nasen, die meisten haben eine Nase von mittlerer Größe. Es giebt äußerst weuig Riesen in der Welt und äußerst wenig Zwerge. Sehr wenige Frauen sind von vollkommener Schönheit nnd sehr wenige durchaus häßlich, die meisten sind so gestaltet, daß das Auge ihreu Anblick gern erträgt, ohne gerade in Entzücken zu geraten. So sind auch sehr wenige Leute ganz schlecht und sehr wenige ganz gut, bei den meisten steht es mit der Tugend wie mit dem Gelde: sie haben davon gerade soviel, um sich ehrlich durchbringen zu können. Und so ist es denn auch mit der Einsicht. Wenige sind ganz dnmm, wenige ganz gescheit, die meisten haben eine mittelmäßige Dosis von Verstand bekommen. Da nun jeder das ihm Ähnliche bevorzugt, so ist es klar, daß es weder die guten noch die schlechten Bücher sind, welche viel nnd gern gelesen werden, sondern eben die mittelmäßigen. Das wissen auch die beliebten Autoren sehr gut, und sowohl Gustav Freytag wie Georg Ebers, sowohl Felix Dcchn wie Friedrich Spielhagen verbergen sorgfältig die tiefe Erkenntnis und die weisheitsvolle Schöpfungskraft ihres überlegenen Geistes, machen dem Publikum allerhand gefällige Scherze vor und erzählen ihm Geschichten, die es versteht, weil sie nicht Lust haben, gleich Shakespeare und Goethe auf einsamer Höhe zu thronen. Denn was wir unter wirklich guten Geisteswerkcn zu verstehen haben, das ist sehr leicht und einfach zu sagen: Es sind solche Werke, welche erst nach dem Tode ihrer Urheber in weitern Kreisen genannt werden und dann im Laufe der Jahrhunderte zu wachseu anfangen, gleich den hohen Thürmen der Dome, die erst dem Auge des Fernstehenden kenntlich aus der Häusermasse emporragen. Denn die Zeit bringt den Wert aller Dinge ans Licht. Sie ist die Mutter der Wahrheit.
So können wir auch wohl von Zola getrosten Mutes sagen: seine Romane können weder ganz gut noch ganz schlecht sein; sie würden sonst nicht soviel gelesen werden. Nur wollen wir uns mit diesem so ganz allgemeinen Urteil nicht begnügen, sondern die Eigenart dieses Schriftstellers näher untersuchen, um zu sehen, in welcher Weise er denn lesenswert ist, was ihn über die gewöhnlichen Romauschreiber erhebt und worin er hinter großen Dichtern und tiefen Denkern zurücksteht.
Zola nennt sich selbst einen Naturalisten, und er hat auch über das Wesen des Naturalismus geschrieben. Doch wollen wir hier seine Ansichten nicht berücksichtigen, da er ja hierbei in eigner Sache kämpft, sondern wir wollen ihn nach seinen Werken, nach feinen Romanen beurteilen, dem Spruche gemäß, daß der Baum an seinen Früchten zu erkennen ist. Mit dem Naturalismus nämlich ist es eine eigne Sache, nnd nicht eben leicht offenbart sich sein eigentliches Wesen dein suchenden Blicke. Wollen wir ihn so verstehen, daß es heißen soll,