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Literatur.
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Literatur.

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Schriftsteller zitirt hat. Man kann freilich nach beiden Seiten übertreiben, und das Richtige wird auch hier in der Mitte liegen. Einen Punkt zieht Bahr nicht in deu Bereich seiner Besprechung, nämlich Stil und Ausdrucksweise des höchsten Gerichts. Wer von der deutschen Einheit nichts weiß und einige Bände Entschei­dungen des Reichsgerichts liest, der kann billig erstere bezweifeln; barbarische Fremd­wörter, Provinzialismen, Perioden, die nach Metern gemessen werden können und erst nach schulgemäßer Konstruktion von Subjekt und Prädikat verständlich werdeil, finden sich nicht selten. Auch hier sollte sich das Reichsgericht bewußt sein, daß nicht nur das Recht, sondern auch die Rechtssprache seiner Obhut und Förderung anvertraut ist.

Materiell zeigt Bähr au verschiednen Beispielen, wie das Reichsgericht sich bemüht, bei Auslegung der Rechtssätze den Bedürfnissen des Verkehrs gerecht zu werden. Im Gegensatz zu Windscheid legt der Verfasser diesem Bedürfnis eine große, rechtsbildendc Bedeutung bei, und wir begrllßeu es mit Freude, daß das höchste Gericht in dieser Auffassung mehr an Bähr hält. Leicht ist ja die Sache nicht zu erledigen, und selbst das Wort GoethesVernunft wird Unsinn, Wohl­that Plage" zeigt nur eine Abneigung gegen das starre Festhalten am Buchstaben, das auch Wiudscheid verurteilt. Bähr will, daß diejenigen Rechtssätze, welche nicht sowohl den bestimmten Fall als die Richtung angeben, in der sich der Rechtspruch bewegen soll, iu einer der Vernunft und dem Verkehr entsprechenden Weise aus­gelegt werden. Iu geistvoller Weise zeigt der Verfasser, wie die von so vielen als Machwerk verschriene Gesetzgebung Justinians diese Richtung und infolge dessen auch den Fortschritt in der Rechtswissenschaft begründet hat. Bei dieser Anschauung ist es natürlich, daß Bähr dem Gerichtsgebrauch eiue größere Bedeutung beilegt, als dies von seiteu des Reichsgerichts geschieht.

Ein zweiter von Bähr berührter Punkt, der die Anfmerksamkeit der weitesten Kreise Verdicut, betrifft unser neues Prozeßverfahren, wie es sich von dem Stand­punkte des obersten Gerichtshofs zeigt. In ebenso gründlicher wie geistvoller Weise, der auch die feine Ironie nicht fehlt, zeigt sich der Verfasser als ein Gegner des sogenannten mündlichen Verfahrens.War es doch als ob man glaubte, daß die mündliche Verhandlung gleichsam einen elektrischen Strom bilde, ans welchem der geistige Funke in die Köpfe der Richter überspringen und dort sofort ein unfehl­bares Urteil erzeugen werde!" Die Kritik des Verfassers vernichtet diesen Glauben nnbarmherzig. Früher lag das Vorbringen der Parteien in ihren Schriftsätzen der Beurteilung sämtlicher Instanzen vor, jetzt fertigt ein Richter im Dränge der Ge­schäfte, fast unkontrolirt und lediglich auf Grund feines mehr oder minder zuver­lässigen Gedächtnisses, den sogenannten Thatbestand, den die höheren Instanzen ihrer Nachprüfung zu Grunde legen. Der Gesetzgeber selbst traute freilich dem eignen Shstem nicht recht und fügte noch die Vorschrift hinzu, daß bei Darstellung des Thatbestandes eine Bezugnahme auf die Schriftsätze der Parteien nicht ausgeschlossen sein sollte.Man durfte hoffe», daß diese euphemistische Redeweise, welche aus dem stillen Bewußtsein der völligen Undurchführbarst der Thatbestandslehre hervor­gegangen, wohl verstanden werden, und daß iu der Bezugnahme auf die Schrift­sätze das erste und wichtigste Recht der Parteien, in allen schwierigen Fällen mit ihrer eignen Darstellung von den Richtern aller Instanzen unmittelbar gehört zu werden, doch wieder znr Geltung kommen würde." Allein der Verfasser zeigt, daß das Reichsgericht diese Hoffnung zunichte gemacht hat, indem es diesen uusichern, vou dem Richter angefertigten Thatbestand über Gebühr als ausschließliche Grund­lage der Entscheidung erachtet und die Schriftsätze der Parteien fast gänzlich beiseite