Der verfassungsbruch der Fortschrittspartei.
Diese sittliche Entrüstung am unrechten Orte bildet recht den Gegensatz zu dem, was jetzt über den Diätenfonds der Fortschrittspartei bekannt geworden ist. Bisher hatte es den Anschein, daß die Herren Richter, Hcinel und Genossen die Verfassnngstrenc gepachtet hätten, daß ohne ihre unablässige Wacht und Hut der böse Kanzler mit seinen reaktionären Gehilfen einen Verfassnngsartikel nach dem andern beseitigt haben würde. Aber stehe da, jetzt findet sich eine vortreffliche Gelegenheit znr sittlichen Entrnstnng sttr Herrn Hänel, zn einer Anklage wegen Verfassuiigsbrnchs vor dem deutschen Volke und Europa, aber die Anklage kann sich jetzt nicht gegen den Kanzler richten, sie mnß die Spitze gegen die eigne Brust, gegen die Freunde und Genossen kehren. Ja Baner, das ist ganz was andres! Wenn die Fortschrittspartei die Verfassung bricht, da redet man nicht darüber. Die Maske herunter von dem heuchlerischen Antlitz der ts,nx donQOMiruzs!
Schon vor Jahren tauchte in fortschrittlichen Blättern der Gedanke ans, den auswärtigen Abgeordneten der Partei aus Parteifvnds eine Entschädigung für ihren parlamentarischen Aufenthalt in Berlin — nicht etwa für andre Zwecke, Agitationsrcisen oder dergleichen — für ihre Thätigkeit als Abgeordnete zu gewähren. Diesen Gedanken hatte Herr Eugen Richter erfunden. Schon damals machte zwar nicht in dem Tone sittlicher Entrüstung, wie er bei Ver- fassnngsverletzungen üblich ist, aber mit Entschiedenheit die liberale und sogar fortschrittliche Presse auf das „Bedenkliche" des Planes aufmerksam, der bald darauf — wie alles, was den Herren unangenehm ist — aus den Spalten der Blätter verschwand. Der Gedanke selbst aber blieb nicht ruhen, und jetzt erfahren wir bei der Greifswalder Wahl, daß jeder fortschrittliche, nicht in Berlin wohnhafte Abgeordnete aus dem Parteifonds von dem Fraktionsvorstand 500 Mark für die Session als Entschädigung für seine Thätigkeit erhalte. Die Thatsache wird nicht in Abrede gestellt, die fortschrittliche Berliner Volkszeitung verteidigt die Maßregel mit der an Herrn Nichter gewohnten Unverfrorenheit, die Vossische macht eine saure Miene, die andern liberalen Blätter, soweit sie von dem unangenehmen Thema sprechen, halten diese Bezahlung noch immer für „bedenklich" und ziehen — wie freundlich! — einen offenen Antrage im Reichstag auf Bewilligung von Diäten vor. Keiner bezeichnet dieses Verhalten als das, was es ist, als einen offenbaren Verfassungsbruch.
Jedermann kennt die Kämpfe, die im konstituirenden Reichstage um das allgemeine Wahlrecht gestritten wurden. Die treuesien Freunde des Kanzlers trugen die lebhaftesten Bedenken, mit ihm diesen Schritt in das Ungewisse auf einer bisher nur von demokratischer Seite gepriesenen Bahn zu thun. Welche Hindernisse der Kanzler bei den Regierungen zu überwinden hatte, wird vielleicht einmal später zutage treten. Aber das eine geht aus den Debatten des konstituirenden Reichstages unzweifelhaft hervor, daß die Gegner des allgemeinen Wahlrechts dasselbe nur im Hinblick auf die Tatenlosigkeit der Mitglieder an-
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