Nochmals Nietschels Luthcrkopf.
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tcristischer geben. Einige Milderungen in der Ausprägung der Formen und Züge rate ich an, um auf eiue richtige Mitte zu lenken."
Es scheint mir zweifellos, daß Rietschcl zu der Zeit, als er Donndorf an die Umgestaltung seines Lutherkopfes Hand anlegen ließ, zu der Ansicht gelangt war, daß seine eigne Schöpfung das Individuelle und Porträthafte, den populären Luthertypus, dcu er von seinem Werke verlangte, nicht stark genug zum Ausdruck brachte, uud daß er deshalb Douudorf mit der Aufgabe betraute, durch Veränderungen die „richtige Mitte" zwischen „dem im Volksbewnßtsein lebenden Cranachscheu Luthertypus" und einer künstlerisch freien Behandlung dieses Typus herzustellen. Daß solche Erwägungen die Entschließung Nietschels bestimmten, ergicbt sich, glaube ich, mit Notwendigkeit auch aus der jetzt für jedermann möglichen Vergleichung zwischen den beiden Köpfen selbst, dem aus Nietschels Hand hervorgegangeneu und dem uutcr der Hand seines Schülers entstandenen. Freilich werden, wenn uns das Bild des von Nietschels Meisterhand geschaffenen Lutherkopfes vor die Seele tritt, immer aufs neue Zweifel sich regen, ob es sein mußte, daß dieser Kopf vou seinem eignen Erfinder verworfen wurde. Aber die Beruhigung ist sür jeden Kunstfreund vorhanden, daß Nietschels Ange auch auf dem Werke seines trefflichen Schülers gernht, sein maßgebendes Urteil es gebilligt hat. Schon am 4. Febrnar sah er nach Andr. Oppermcmns Zeugnis (s. Dresdner Anzeiger Nr. 212) Donndorfs Änderungen an der ins Freie gerückten Statue, und in Friedrich Pechts „Deutschen Künstlern des 19. Jahrhunderts" (1. Reihe, Nördlingen 1877, S. 122) findet man folgende Nachricht: „Nach monatelangen, heroisch ertragenen Leiden ließ er sich eines Tages, am 18. Februar 1861, noch einmal das große Gipsmodell seines Luther in den Garten rücken, um es vom Fenster aus sehen zu könne». Nach langer Betrachtung ordnete er zufrieden noch einiges an und verfiel in einen ruhigen uud sanften Schlaf, ans dem er nicht wieder erwachte." Der 21. Febrnar war bereits als der Tag festgesetzt, an welchem die öffentliche Ausstellung der Lutherstatue beginnen sollte; es war der Tag, in dessen Morgenstunde Rietschel starb.
Mit Spannung und Freude darf das Dresdner Publikum den kommenden Festtagen des November entgegensehen, an denen es ihm vergönnt sein wird, das Standbild Luthers mit dem von Rietschel modellirten Kopfe auf öffentlichen! Platze zu sehen. Doch wenn es sich alsdann um die künstlerische Beurteilung des mit der Rietschelschcn Gesichtsmaske versehenen Standbildes handeln wird, verdienen wohl dreierlei sehr verschiedenartige Punkte einige Berücksichtigung.
1. Das Wormser Lutherstandbild ist von Rietschel nicht als isolirte Statnc, sondern als Teil eines großen cyklischen Monumentalwerkes konzipirt. Als daher im Jahre 1869 eine kleine Stadtgemeinde die Genehmigung erbat, einen Abguß der Lutherstatue in ihren Manern errichten zn dürfen, wurde diese