Beitrag 
Gedanken über Goethe : 2. Stände :
(Schluß.)
Seite
298
Einzelbild herunterladen
 

298

Gedanken über Goethe.

verzehrt. Arbeitsame Bürgersleute haben gleichsam nicht Zeit, in der Ehe un­glücklich zu sein; in dem schönen Müßiggang vornehmer, von der Notdurft nicht gedrückter Menschen schweifen die Gedanken leicht aus dem gezogenen Kreise, der Umgang der Geschlechter, das Spiel der Liebe wird zur Unterhaltung, zum Geschäft des Lebens, und führt oft zu tiefem Fall und tragischem Verderben. So heißt es schon in denBekenntnissen einer schönen Seele":Er sagte mit einem tiefen Seufzer: Als ich die Schwester sah die Hand hingeben, war mirs, als ob man mich mit siedheißem Wasser begossen hätte. Warum, fragte ich. Es ist mir allezeit so, wenn ich eine Kopulation ansehe, versetzte er. Ich lachte über ihn und habe hernach oft genug an seine Worte zu denken'gehabt." Auch die junge schöne Gräfin imWilhelm Meister" lebt in unglücklicher Ehe mit ihrem wunderlichen Manne; ihre Liebe zu Wilhelm und die seinige zu ihr ver­gleicht der Dichter zwei feindlichen Vorposten, die von den beiden Ufern eines Stromes, der sie trennt, friedliche Grüße wechseln, ohne des Krieges zu ge­denken. Später suchte sie, wie so oft Frauen höhern Standes, ihr Leid durch Wohlthätigkeit zu mildern; als Wilhelm dies hörte, machte es ihn äußerst traurig: erfühlte, daß es bei ihr nur eine Notwendigkeit war, sich zu zer­streuen und an die Stelle eines frohen Lebensgenusses die Hoffnung fremder Glückseligkeit zu setzen" (Buch 7, Kap. 6). Daß dem Dichter, obgleich er seinen Wilhelm den höhern Ständen, als einem weiteren und edleren Dasein, zuführte, doch die Schwächen derselben wohl zum Bewußtsein kamen, geht schon aus den oben angeführten Zügen hervor, nnd so spielt auch hier, wie bei Schilderung des Bürgertums, ein unmerkliches Lächeln um den Mund des Erzählers; er scheint ganz in der Sache zu stehen, und doch schwebt sein Blick drüber. Schon die Parallele, in die hier das Theater und die höfischen Sitten gestellt sind, enthält eine leise satirische Andeutung. Da der Weltmann sich nicht geben kann. wie er wirklich ist und fühlt, lebt er nicht auch im Reiche des Scheines, als eine Art Schauspieler? Und muß umgekehrt der Schauspieler nicht auch sein Äußeres bilden, die Befangenheit ablegen, in Gang und Geberde, im Blick der Aligen und im Klang der Stimme jene vollendete Persönlichkeit zu gewinnen suchen, die Wilhelm als Vorzug derjenigen, die auf den Höhen des Lebens ge­boren sind, bewundert? Doch bei diesem Modischen Abbild des Adels, bei den Zigeunern, wie sie Jarno nennt, konnte Wilhelm nicht bleiben; er erhält die Warnung: flieh, Jüngling, flieh! und später kann er nicht Übles genug von seinen frühern Kunstgenossen sagen, und merkt nicht, daß er, indem er sich gegen ihr niedriges Treiben ereifert, die Welt selbst, wie sie ist, geschildert hat wie ihm gleichfalls Jarno unter Lachen vorhält. Und auch gelernt hat er vieles unter den Schallspielern; hat ihn z. B. nicht Philine durch ihr Necken und Locken von dem Ungeschick befreit, mit dem er zuerst als verliebter Dichter unter die Menschen trat?