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Gedanken über Goethe : 2. Stände :
(Schluß.)
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Gedanken über Gzothe.

war Edelmann geworden durch Adel der Gesinnung, Hofmann durch Höflichkeit des Herzens (aus Ottiliens Tagebuche:Es giebt eine Höflichkeit des Herzens, sie ist der Liebe verwandt; aus ihr entspringt die bequemste Höf­lichkeit des äußern Betragens," und kurz vorher:Es giebt kein äußeres Zeichen der Höflichkeit, das nicht einen tiefen sittlichen Grund Hütte"), zurückhaltend, oft schweigsam, denn in der Welt traten ihm in wechselnder Mischung Bosheit und Gewöhnlichkeit entgegen, und er hatte viele Schätze zu hüten. Anfangs mochten die Freunde, sie, die am Ufer geblieben waren, mit Besorgnis auf ihu blicken, wie er sich auf einem neuen Element eingeschifft hatte und mit Stnrin und Wellen kämpfte; die Mutter lud ihn zur Rückkehr ins elterliche Haus ein, aber das ging nicht mehr an:das UnVerhältnis des engen und langsam be­wegten bürgerlichen Kreises zu der Weite und Geschwindigkeit seines Wesens hätte ihn rasend gemacht" (Brief an die Frau Rat, 11. August 1781), und er mußte dasNotdürftige und Angenehme" des väterlichen Hauses und die darin herrschendeunbedingte Ruhe" verschmähen (ebenda). Eben aus jenen kleinen bürgerlichen Verhältnissen hatte er sich ja emporgearbeitet, sich von Schlacken gereinigt und dabei unsäglich ausgestanden (an Jacobi, 17. November 1782). Wilhelm Meister" ist das Werk, in der diese Erhebung schrittweise dargelegt wird; es ist die Fortsetzung vonWahrheit und Dichtung" und zeigt uns, um es kurz und bündig zu sagen, wie der Bürgersmann zum Edelmanne wird. Tiefer und schärfer läßt sich der Unterschied beider Stände nicht cmssprecheu, als es Wilhelm in seinem Briefe an Werner gethan hat (Buch 5, Kap. 3). Was hier in sinnvollen, aber allgemeinen Formeln niedergelegt ist, entfaltet der ganze Roman, wie später dieWahlverwandtschaften," in einer Reihe lebendiger Szenen und individueller Figuren. Was kann feiner dem Leben abgelauscht sein, als die Ankunft der Schauspielertruppe auf dem Schlosse des Grafen, die Verwirrung dort, die nicht gehaltenen Versprechungen, Wilhelms und Philinens Rolle bei den Lustbarkeiten und geheimen Liebeshündeln, das gereimte Pasquill, die einbrechende Genieinheit bei den Prügeln, die der Pedant erhält, das Protc- giren und Beschenke,?, die Ankunft des Prinzen, das Geld, das Wilhelm an­nimmt (auch Werther trug 25 Dukaten mit nach Hause), die mehr französische als deutsche Bildung, die improvisirte Bühne und auf ihr die Huldigung durch Emblematik und Allegorie, das Spiel mit idealen Mächten als Mittel gegen die Langeweile, die Leichtigkeit und der Leichtsinn bei ernsten Geschäften, die allmächtige Herrschaft eines schönen und liebenswürdigen, aber trüglichen An- standes (Wilhelm sah das wichtige und bedeutungsvolle Leben der Vornehmen und Großen in der Nähe und verwunderte sich, wie einen leichten Anstand sie ihm zu geben wußten"), Lothario, der, wie es sich fiir den Baron schickt, wegen eines Frauenzimmers ein Duell hat und darin verwundet wird, der die Tochter eines seiner Pächter liebt und sie dann anderswohin verheiratet, während er die Schauspielerin Aurelie, deren Gunst er auch genossen hat, dein bittern Gram