Levin Schücking.
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stellbares Erlebnis geworden ist. Die spärlichen Berichte, welche wir über Luthers Aufenthalt in Rom besitzen, legen zudem dem Dichter keinen Zwang auf, cr darf seiner Phantasie gestatten, dem Wittenberger Mönch und Professor so viel von den Eindrücken Roms zu geben, als mit der Naturwahrheit uud der psychologischen Wahrscheinlichkeit vereinbar sind. Der Vorwurf war so groß, daß das poetische Vermögen uno die gestaltende Kraft Schückings sich ihm nicht völlig gewachsen zeigt. Aber der ganze Roman ist nicht nur durch jenen lebendigen Fluß der Darstellung uud jene leichte, frische Schreibweise ausgezeichnet, welche wir fast immer bei ihn, finden, sondern enthält auch Partien von echt poetischer Schönheit und glänzendem historischen Kolorit. Dazu zählen wir namentlich die Charakteristik der Gräfin Corrcidina, des Signor Callisto, das Auftreten Rafael Scmtis und einige verwandte Episoden. Es war im höchsten Maße charakteristisch, daß sich der völlig unter katholischen Anschauungen und Auffassungen erwachsene Schücking, angesichts des bevorstehenden vatikanischen Konzils gedrängt sah, der Person und Sache Luthers näherzutreten und sich in die Stimmungen hineinzuleben, die im sechzehnten Jahrhundert den großen Glaubenskampf und die Trennnng des deutschen Volkes von Rom veranlaßt hatten.
Den größten Anlauf in seiner späteren, allzusehr in die Breite wachsenden Produktion nahm Schücking in dem umfassenden Roman „Die Heiligen und die Ritter" (1873). Hier stand er wiederum auf heimatlichem westfälischen Boden und mitten in der Gegenwart. Aber diesmal handelte es sich nicht um eine Familiengeschichte oder um noch so eingehende Sittenschilderungen. Soweit der moderne Romandichtcr der Forderung, ein Weltbild aufzustellen, überhaupt nachzukommen vermag, giebt hier der Schriftsteller ein solches. Und zwar ist dasselbe von eigenster Empfindung und Leidenschaft erfüllt. Der ungeheure Konflikt, in welchen die Kirche mit dem Dogma des Jahres 1870 und mit ihrer fortschreitenden Romanisirung taufende von gläubigen Katholiken versetzte, und welchen der Sohn der roten Erde in seiner ganzen Schwere und Tiefe mitempfunden hat, ist hier in seiner Wirkung auf die grundverschiedensten Naturen und Lebenskreise dargestellt. Das abenteuerliche Element, das in keinem der Romane Schückings ganz fehlt, ist in diesem, wenigstens in den ersten und besten Teilen des Werkes, ganz in den Hintergrund gedrängt, um der lebendigen Wiedergabe von Lebensschicksalen und Charakteren Raum zu lassen, in denen der gedachte Konflikt verkörpert ist. Die Exposition des Buches muß vorzüglich genannt werden, und leise, aber bestimmt und dann immer stärker, immer energischer schlägt Schücking die Töne an, welche durch „Die Heiligen und die Ritter" hindurchklingen sollen. In den Gestalten des Bischofs von Sebenstein, des Pfarrers Gerwin, des Fräuleins Ludmilla von Uechtenberg, des Freiherrn von Bungenhausen sind die verschiedenen Wirkungen, welche die neueste Phase des Ultramontanismus auf gläubige deutsche Katholiken gehabt, mit feiner Abstufung und zum Teil ergreifend dargestellt. In der Gestalt des aristokratischen, von der Poesie des Glaubens Grenzboten IV. 1333. 25